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Der Logistikverkehr wird zunehmend zur Herausforderung für die Städte: Lieferwagen, die in der zweiten Reihe halten und den übrigen Verkehr ausbremsen; eine zunehmende Zahl kleinteiliger Sendungen und zugleich wachsende Ansprüche der Bürger an den Zustellkomfort. Ist ein Ausgleich in diesem Zielkonflikt möglich? Welche Rolle könnte moderne IT spielen, um den Verkehr zu verringern, ohne die Belieferung zu beeinträchtigen? Die techtag Redaktion konnte dazu mit Sven Altenburg, Leiter des Kompetenzteams „Mobilität 4.0“ bei der Verkehrsberatung Prognos sprechen.

Wer durch die Lande reist, bekommt den Eindruck, dass einige Städte das Thema urbane Logistik schleifen lassen und ins Chaos schlittern. Ist da etwas dran?

Es gibt in der Tat Städte, die bis heute der Auffassung sind, dass sie kein Problem mit Lieferverkehren haben. Den Verantwortlichen dort kann man auch kein Problem einreden. Wenn sie der Auffassung sind, bei ihnen sei Platz genug und der Lieferverkehr laufe doch super, dann hat es auch keinen Sinn, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Aber die Mehrheit der Städte merkt mittlerweile schon, dass dahingehend etwas passieren muss.

Sven Altenburg spricht im Interview zum Thema urbane Logistik.
Sven Altenburg, Projektleiter Mobilität & Transport / Mobility & Transport Prognos AG

Wieso sollte sich die öffentliche Hand überhaupt in das Thema innerstädtische Logistik beziehungsweise urbane Infrastrukturen einmischen? Normalerweise lässt man doch in Deutschland die Wirtschaft machen. Was ist bei diesem Thema anders?

Richtig ist, dass sich die Städte bei diesem Thema bislang eher zurückgehalten haben, da städtischer Güterverkehr im Gegensatz zum Personenverkehr nicht Teil der Daseinsvorsorge ist. Aber die Probleme, die von Lieferverkehren ausgehen, sind Staus, Halten in zweiter Reihe und Überlastung von öffentlicher Infrastruktur, die im Zuge dessen, beispielsweise von Radfahrern und Fußgängern, nur eingeschränkt genutzt werden kann. Das geht so weit, dass die Attraktivität von bestimmten Stadtteilen massiv darunter leidet. Da ist es völlig egal, ob es ein Wohngebiet ist, das zugeparkt wird, oder eine Hauptgeschäftsstraße, in der Passanten die stationären Geschäfte vor lauter Lieferfahrzeugen nicht mehr wahrnehmen. Die Schadstoffemissionen spielen natürlich auch eine Rolle. Diese sind, verglichen mit anderen urbanen Verkehren, zwar in der Regel niedrig; eine Reduzierung dieser wäre dennoch ein schöner Nebeneffekt.

Woher kommt diese Überlastung?

Jeder, der im KEP-Markt sein Geld verdient, behauptet, dass er sehr effizient operiert. Das ist auch nicht gelogen. Aber es ist ein Unterschied, ob man Effizienz durch eine betriebswirtschaftliche Brille betrachtet oder durch eine gesamtsystemische. Ein Beispiel: Natürlich sind die Fahrzeuge, die in die Städte hineinfahren, pickepacke voll. Insofern sind die auch sehr effizient. Aber: Wenn man ein Paket an einen Empfänger in der nächsten Straße schickt, wird der KEP-Dienst es abholen, ins Verteilzentrum am Stadtrand fahren, dort neu kommissionieren und dann am nächsten Morgen wieder in die Stadt fahren. Das ist für das Unternehmen betriebswirtschaftlich effizienter, als wenn er ein Auto losschickt und sagt, hier müsse ein Paket 200 Meter weitergetragen werden. Gesamtsystemisch betrachtet wäre es aber besser, man würde jemanden finden, der das Paket auf dieser kurzen Strecke direkt befördert.

Was ist die größte Herausforderung bei City-Logistik-Projekten?

Selbst die Städte, die schon erkannt haben, dass da etwas auf sie zukommt, können im Regelfall die wirklichen Dimensionen nicht erfassen. Prognos arbeitet in diesem Bereich immer mit Spezialisten von KE CONSULT zusammen, die sich ganz explizit mit der Abschätzung von Liefermengen beschäftigen. In Hamburg haben wir beispielsweise den städtischen Verantwortlichen aufzeigen können, was bis 2030 mengenmäßig auf sie zurollt. Man muss nur mal mit offenen Augen durch eine Innenstadt spazieren und schauen, was dort heutzutage bereits alles passiert. Und wenn man jetzt den Stakeholdern vorrechnet, dass sich dieses Aufkommen bis 2030 noch einmal verdoppeln könnte, sieht jeder ein: Die doppelte Warenmenge bedeutet grob gerechnet die doppelte Anzahl an Lieferfahrzeugen. Hinzu kommt: Eine Stadt ist keine homogene Fläche – es gibt einerseits absolute Aufkommens-Hot-Spots und andererseits Gegenden, in denen nicht viel passiert. Das große Problem des Onlinehandels ist aber, dass er nicht nur ausgerechnet dort stattfindet, wo ohnehin schon viel los ist, sondern er erreicht auch die bislang eher ruhigen Einfamilienhausgebiete.

Wie geht man als Berater klugerweise vor, wenn sich eine Stadt entscheidet, das Thema urbane Logistik anzugehen?

Es ist schon ein großer Unterschied, ob man über so etwas wie Berlin mit riesengroßen vierspurigen Hauptstraßen im Stadtkern spricht oder Marburg, eine mittelalterlich gewachsene Stadt mit ganz engen Gassen im Zentrum – beide Städte stellen an mögliche Lieferkonzepte sehr unterschiedliche Ansprüche. Dennoch, am Ende gibt es eine relativ begrenzte Anzahl an Grundstrategien. Das Interessante sind dann die Details – also wie setze ich ein Konzept um? Ein Beispiel: Natürlich sind Lastenräder eine hervorragende Möglichkeit, um die Belastung durch urbane Lieferverkehre ein Stück weit zu verringern. Aber daran sind ganz große Detailfragen geknüpft. Zum Beispiel brauche ich Mikrodepots in der Nähe. Wie sollen die aussehen? Wo sollen sie hin? Verlange ich als Stadt zwingend, dass sie irgendwo im baulichen Bestand entstehen, oder bin ich auch damit einverstanden, dass jemand Wechselcontainer in die Landschaft stellt?

Die Städte haben also auch einige Hebel in der Hand?

Definitiv. Eine Stadt muss sich zum Beispiel fragen: Sind wir bereit, städtische Ressourcen zur Verfügung zu stellen – konkret öffentlichen Raum –, damit der Lieferverkehr besser läuft? Je nachdem, wie man sich entscheidet, hat man mehr oder weniger Spielräume. Zudem muss eine Stadt gegebenenfalls bereit sein, eventuelle Restriktionen durchzusetzen; bis hin zu Einfahrverboten. Ist das bei uns in der Stadt politisch gewollt? Ist das durchsetzbar?

Wie bringt man die Bürger dazu, Veränderungen in der innerstädtischen Logistik zu akzeptieren?

Jeder Bürger hat eine Doppelrolle. Auf der einen Seite ist er Anlieger, der vom Lieferverkehr genervt ist. Auf der anderen Seite bestellt er kräftig im Internet und verlangt, dass ihm die Ware an die Haustür zugestellt wird. Wenn man die Bürger einbeziehen will, dann muss man sie in der Rolle des Anliegers ansprechen. So unter der Überschrift „das ist doch Mist, dass hier immer alles vollsteht!“. Das funktioniert eigentlich immer sehr gut. Zugleich muss man ehrlich sein und feststellen: „Wir installieren ein System, über welches eine Hauszustellung nicht mehr möglich ist, aber wir sorgen dafür, dass du in fußläufiger Entfernung einen Abholpunkt auffindest. Und das machen wir nicht, um dich zu ärgern, sondern damit in deinem Stadtteil nicht überall die Lieferfahrzeuge auf den Radwegen stehen und damit deine Kinder sicherer mit dem Rad zur Schule fahren können.“ Man kann den Menschen nicht irgendwas vorsetzen, in dem sie nur Nachteile sehen.

Welche Rolle kann moderne IT dabei spielen, die städtische Logistik geschmeidiger zu gestalten?

Aus meiner Sicht haben anbieterneutrale Plattformlösungen großen Charme: Damit wird man in die Lage versetzt, sehr kurzfristig und sehr flexibel Nachfrage und Angebot im Transportmarkt zusammen zu bringen. Solche Plattformen stellen die Legitimation der großen KEP-Dienste nicht grundsätzlich in Frage. Aber es gibt Nischen, in denen die etablierten Anbieter aus Sicht des Gesamtsystems nicht die effizienteste Lösung sind. Wir müssen stärker zu einem zielgerichteten Matching von bestimmten Dienstleistern mit einer sehr individuellen Nachfrage kommen.

Anmerkung der Redaktion: Passend zum Thema – RULS – urbane Logistik der Zukunft.

Woran müsste man einen Pilotbetrieb messen?

Der Impact, den ein Pilotprojekt erzielen kann, wird von der Skalierung des ganzen bestimmt. Damit ist aber nicht nur die Größe des bedienten Liefergebietes gemeint, sondern es wird auch darauf ankommen, wie viele Anbieter und Akteure in diesem System eingebunden werden können. Weiterhin muss sich die Plattform daran messen lassen, dass sie die Aufgabe aus gesamtstädtischer Sicht besser erledigt als jeder einzelne Anbieter alleine. Das betrifft sowohl die verkehrstechnischen und ökologischen Auswirkungen als auch die Lieferqualität für die Kunden, also z.B. Lieferdauer und Zuverlässigkeit.

Herr Altenburg, vielen Dank für das Gespräch!