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Gabelstaplerfahrer*innen dringend gesucht? Die Logistikbranche kennt das Problem nur zu gut. Wenn es darum geht, qualifizierte Gabelstaplerbediener*innen zu finden, stehen Unternehmen vor immer größeren Herausforderungen. Eine wegweisende Lösung kommt jetzt von enabl aus Karlsruhe. Sie hat das Potenzial, den traditionellen Ansatz des Gabelstaplerbetriebs vollständig zu verändern. Ein innovatives Remote Driving System ermöglicht es Unternehmen, ihre Gabelstaplerflotten aus der Ferne zu steuern und zu überwachen, ohne dass der/die Bediener*in physisch anwesend sein muss. Die Lösung des Startups setzt neue Maßstäbe in puncto Effizienz, Sicherheit und Flexibilität und verspricht eine neue Ära des Gabelstaplerbetriebs einzuläuten.

Ariane Lindemann im Gespräch mit Julian Wadephul.

Gabelstaplerfahrer*innen werden immer rarer. Ihr rettet die Branche mit einer innovativen Lösung per Fernsteuerung …

Angesichts der Herausforderungen, qualifiziertes Personal für den Betrieb von Gabelstaplern zu finden, bietet die ferngesteuerte Steuerung völlig neue Möglichkeiten. Von unterschiedlichen Standorten aus können damit die Fahrzeuge sicher und präzise bedient werden.

Wie seid ihr ausgerechnet auf Gabelstapler gekommen?

Eigentlich aus einem Learning heraus. Wir fünf Gründer haben bereits seit 2017 als Werkstudenten bei Schaeffler in Karlsruhe Fahrzeuge, vor allem Mikromobile, wie zum Beispiel Lastenräder, automatisiert. Wir wollten in diesem Bereich gemeinsam ein Startup gründen, merkten aber schnell, dass eine Technologie allein nicht reicht. Wir mussten erst die Situation von potenziellen Kunden verstehen. So kamen wir nach vielen Gesprächen mit potenziellen Kunden auf Gabelstapler, weil es da einen großen Bedarf gibt.

Ein klassischer Anfängerfehler, nur in die Idee verliebt zu sein?

Definitiv. Damals haben wir genau das gelernt: „Don’t fall in love with your idea“. Für ein Startup bedeutet das, sich erst einmal zu fragen: Welches Problem löst du überhaupt? Wo ist der Need? Das ist ein Klassiker, den viele Startups falsch machen. Sie gehen nicht vom Problem aus, sondern von einer Idee. Aber nur, wenn du dich voll auf die Needs deiner Kunden fokussierst, hast du eine Chance, auch erfolgreich zu sein. Denn die Kunden sind nur bereit, für etwas zu zahlen, was ihnen wirklich ein Problem löst und Nutzen generiert.

Und so seid ihr auf den Fachkräftemangel in der Intralogistik gekommen?

Ja, denn das ist eines der größten Probleme der Branche, das sich in Zukunft auch noch verstärken wird. Durch die Fernsteuerung und Automatisierung von Gabelstaplern braucht man weniger Mitarbeitende, weil man sie standortunabhängig und effizienter einsetzen kann. Es gibt viel mehr Möglichkeiten bei der Gestaltung von Fahraufträgen.

Welches sind die besonderen Herausforderungen bei einem Gabelstapler?

Einen Gabelstapler zu automatisieren, bedeutet, nicht nur die Fahrt, sondern vor allem auch das Handling mit dem Gut auf der Gabel zu automatisieren. Bei anderen fahrerlosen Transportsystemen, wo die Automatisierung bereits sehr stark vorangeschritten ist, fällt diese Komponente weg und das Fahren und Ansteuern von Stationen liegt im Fokus. Sobald es aber darum geht, eine Palette zu handeln, wird es kompliziert. Deshalb war für uns wichtig, nicht eine Technologie im Labor zu entwickeln, sondern das Ziel zu verfolgen, Flurförderzeuge, zu denen Gabelstapler zählen, möglichst nah am Kunden und an den heute verbreiteten Anwendungsfällen zu orientieren.

Das heißt, die Fahrerin oder der Fahrer muss nicht mehr auf dem Gabelstapler sitzen, sondern irgendwo auf der Welt vor einem Bildschirm?

Genau. Wir haben einen Remote-Arbeitsplatz mit großem Monitor, auf dem wir die Information des Fahrzeugs, sowie mittels Kameras die Umgebung des Fahrzeugs darstellen. Der/die Fahrer*in lenkt das Fahrzeug mit einem Joystick, Lenkrad und Pedalen anhand dieser Informationen, so, als wenn er vor Ort auf dem Gabelstapler sitzen würde.

Das heißt, alles, was es braucht, ist Internet?

Ja. Die Fahrerin oder der Fahrer kann überall sitzen, wo es eine gute Internetverbindung gibt. Das macht am Ende sehr viele interessante Geschäftsmodelle möglich, weil man sehr viel schneller zwischen Fahrzeugen wechseln und verschiedene Standorte, Regionen und Länder verbinden kann. Das bedeutet, ich kann Mitarbeitende sogar im Ausland beschäftigen und mit diesen Fahrzeugen verknüpfen. Dadurch kann ich am Ende meine Fahrzeuge viel effizienter einsetzen und Fachkräfte aus ganz Europa und weltweit vernetzen.

Hört sich für mich echt futuristisch an …

Nicht nur für dich! Leute, die das zum ersten Mal zum Beispiel bei Live-Vorführungen sehen, müssen erst mal grinsen und sagen: Das kann doch gar nicht gehen!

Was ist, wenn die Internet-Verbindung abreißt?

Wenn der PC ausfällt und die Internetverbindung unterbrochen wird, reagiert das System sofort und das Fahrzeug bremst ab. Das System überwacht sich selbst und prüft konstant, ob die Kommunikation zur Fahrerin oder zum Fahrer noch gegeben ist. Diese*r hat auch ein unabhängiges Not-Aus, das er/sie betätigen kann.

Wo wir beim Thema Sicherheit sind: Rein psychologisch ist es ein Unterschied, ob man etwas aus der Ferne am Bildschirm bedient oder live vor Ort ist …

Sicherheit ist für uns einer der zentralen Punkte, die wir berücksichtigen müssen. Die Steuerung kann sich leicht wie ein Computer-Spiel anfühlen und der Bezug zur Realität kann verloren gehen. Man darf niemals vergessen, dass man ein reales Fahrzeug, das sehr hohe Schäden herbeiführen kann, steuert. Zum Beispiel Sachschäden beim Transport wertvoller Güter oder auch Vermögensschäden, beispielsweise wenn ein Fahrzeug eine Produktionsmaschine beschädigt und die Produktion des Kunden eingeschränkt wird. Es kann aber auch – und das ist eigentlich der Worst Case – ein Personenschaden entstehen. Doch wir haben hier technische Möglichkeiten und können die Herausforderungen lösen.

Ist es in einem solchen Fall möglich, sich von einem anderen Standort einzuloggen?

Wir werden zwar einzelne Steuerzentralen haben, in denen viele Fahrer*innen sitzen, es wird aber auch verschiedene Standorte geben, von denen aus man in solchen Fällen reagieren könnte. Im ersten Schritt geht es aber zunächst darum, dass das Fahrzeug sich niemals ohne eine Fahrereingabe bewegt. Wenn das Fahrzeug stehenbleibt, ist das zwar ungeschickt, aber in erster Linie ist es erst mal wichtig, einen Unfall zu vermeiden. Das lösen wir durch die Rundumsicht der Fahrer*innen und – falls die Verbindung abbricht – durch einen sofortigen sicheren Stopp des Fahrzeugs.

Wie stellt ihr sicher, dass sich nicht jemand unbefugtes ins System einloggt und in einer Lagerhalle fährt. Du hattest das Thema Gaming angesprochen …

Wir haben Sicherheitsvorkehrungen im Zugang des Systems: Das ist alles verschlüsselt und entspricht den Sicherheitsstandards. Es darf niemals passieren, dass sich jemand unbefugtes von außen mit Fahrzeugen verbindet und einen Schaden anrichtet. Sonst kann es zu Unfällen, Beschädigungen oder auch Industriespionage kommen. Auch hier gibt es gute Lösungen, die Stand der Technik sind.

Braucht die Person, die die Steuerung bedient, einen Gabelstaplerführerschein?

Ja, die Fahrerin oder der Fahrer muss eine Ausbildung für den Gabelstapler haben und darüber hinaus auch eine Zusatz-Qualifikation für die Steuerung unseres Systems. Denn wir müssen gewährleisten, dass alle, die sich einloggen, die Sicherheitsanforderungen erfüllen.

Remote-Driving – und da sagt man, in Produktionsberufen gäbe es kein Homeoffice …

Es ist in der Tat ein sehr großer Vorteil, dass wir verschiedene Standorte miteinander verbinden können, was natürlich sehr stark auf den Fachkräftemangel einzahlt. Was aber eben auch eine Verfügbarkeit an Mitarbeitenden garantiert, weil wir europaweit und auch weltweit Mitarbeitende rekrutieren. Auch das Thema Lohnkostenunterschiede federn wir damit ab. Im sogenannten White-Collar Bereich hat sich spätestens seit der Corona-Pandemie Home-Office etabliert. Doch im sogenannten Blue-Collar Bereich, hierzu zählen Gabelstapler-Fahrer*innen, ist dies Stand heute nicht möglich. Mit unserem Ansatz schaffen wir hier durchaus attraktivere Arbeitsplätze.

Ist autonomes Fahren in der Intralogistik denkbar?

Selbstverständlich, denn unser Ansatz sieht vor, dass wir uns Schritt-für-Schritt in Richtung Vollautomatisierung bewegen. Jedoch heute gibt es bei etablierten Ansätzen die Herausforderung, dass man in vielen Fällen an ältere Infrastrukturen andocken muss. Zum anderen ist das Thema doch sehr komplex, da man für das Fahren eines Gabelstaplers, wie gesagt, nicht nur in der Ebene fährt, sondern zusätzlich noch eine Gabel bewegen muss. Aus diesem Grund liegt der Marktanteil von automatisierten Flurförderzeugen bei unter fünf Prozent. Wir sind mittlerweile in einem Produktstadium, wo wir zwischen 80 und 90 Prozent der Performance eines normalen Gabelstaplers erreichen. Damit können wir sehr viele Aufgaben erledigen, die ein/eine Gabelstaplerfahrer*in heute auch erledigen kann. Aber es gibt Prozesse, wo ein/eine Gabelstaplerfahrer*in noch absteigen muss und diverse Dinge per Hand erledigen muss. Eine Lösung zu bekommen, wo absolut niemand vor Ort ist, wird es deshalb wohl in naher Zukunft nicht geben, da es immer Bereiche gibt, wo man vor Ort eingreifen muss.

Wo gibt es konkret Grenzen?

Ein Beispiel ist der Luftfracht-Bereich. Dort werden Pakete verschiedener Größen gestapelt und verladen, eventuell noch festgezurrt oder ähnliches. Das sind Prozesse, die schwierig darzustellen sind. Ähnlich bei der Kommissionierung von Waren in einem Lager zum Beispiel. Hier kann man natürlich teilautomatisieren, indem man aktuelle Prozesse anders strukturiert, aber das ist leider nicht immer wirtschaftlich.

Jemand, der am Rechner sitzt, ist gesundheitlich und unfalltechnisch nicht so gefährdet wie eine Fahrerin oder ein Fahrer vor Ort. Ein nicht unwichtiger Nebeneffekt eurer Lösung?

Absolut. In der Regel sind Gabelstapler zwar in einer sauberen Umgebung unterwegs, wie zum Beispiel in Lagerhallen. Aber es gibt durchaus Fälle, wo Gabelstaplerfahrer*innen in einer menschenfeindlichen Umgebung arbeiten. In Kühlhäusern zum Beispiel, bei starker Sonneneinstrahlung oder Hitze, in Produktionsumgebungen mit hohen Emissionsbelastungen. Der Arbeitsplatz einer Gabelstaplerfahrerin oder eines Gabelstaplerfahrers ist mit Sicherheit nicht einer der attraktivsten und auch nicht der sichersten. Hier sind unsere Arbeitsplätze deutlich attraktiver.

Das heißt, durch die Gestaltung als Büroarbeitsplatz, vergrößern sich auch die Bewerbergruppen?

Ja. Das ist zwar nicht der einzige Grund für unsere Kunden, aber natürlich ein wichtiger Punkt. Wir haben auch schon behinderte Menschen oder Rollstuhlfahrer*innen unser System steuern lassen, was normalerweise nicht möglich wäre.

Läuft enabl schon im realen Einsatz?

Wir haben bereits zahlende Kunden und solche, mit denen wir Testprojekte, auch im Dauereinsatz, durchgeführt haben (vier Wochen beispielsweise im operativen Betrieb). Wir sind gerade im Übergang von der Testphase zu einem dauerhaften Betrieb. Unser System ist technisch sehr komplex. Weil es außerdem sicherheitsrelevant ist und viele Verantwortungsbereiche integriert werden müssen, sei es die IT, sei es der Betriebsrat, Betriebssicherheit, braucht auch die Integration beim Kunden Zeit. Die Kunden sind aber ausnahmslos begeistert und wir spüren ein großes Interesse auch mit potenziellen weiteren Kunden.

Was hat euch der CyberLab Accelerator gebracht?

Wir haben im CyberLab ein sehr gutes Netzwerk, das wir sehr zu schätzen wissen. Ansprechpartner*innen zu haben, die uns unterstützen, ist extrem wichtig. Zum einen gibt es dort verschiedene Formate, zum Beispiel, wo man Pitchen vor Investor*innen üben kann oder auch ein Investorennetzwerk, das wir mehrfach genutzt haben. Dazu gibt es zahlreiche Workshops, die inhaltlich auch in die Tiefe gehen,  was für uns sehr wichtig war, sei es im Bereich Team oder Business Model Canvas. Da haben wir viel mitgenommen. Wir haben auch an verschiedenen Wettbewerben im CyberLab teilgenommen. Letztes Jahr haben wir zum Beispiel beim CyberChampions Award gewonnen und darüber auch Preisgelder und Vermittlung zu Förderprojekten erhalten.

Seid ihr durch das Investorennetzwerk des CyberLab an Kapital gekommen?

Indirekt ja. Wir haben jetzt gerade eine Finanzierungsrunde abgeschlossen. In einer Veranstaltung vom CyberLab hatte sich eben dieser Investor vorgestellt. Das hat uns dann natürlich in der Ansprache geholfen, weil wir wussten, was VCs wollen, wie sie ticken und wie wir uns verkaufen müssen.

Was macht ihr jetzt mit den Investorengeldern?

Wir sind für die nächste Zeit finanziert und wollen von unserem jetzigen 6-er Team auf bis zu 20 Mitarbeitende wachsen. Außerdem haben wir jetzt die Möglichkeit, diverse Kundenprojekte umzusetzen und Materialien einzukaufen. In der Entwicklung wird uns der Rücken gestärkt, aber auch in Kundenprojekten, weil wir jetzt die finanziellen Mittel haben, um auch noch vielversprechende aber noch nicht profitable Kundenprojekte umsetzen zu können. Frühzeitig unser Geschäftsmodell zu validieren und Kundenbeziehungen aufzubauen ist in unserem Stadium sehr wichtig, wichtiger als die kurzfristige Profitabilität.

Und auf die Technologie bezogen?

Unser Fokus ist es, in den nächsten eineinhalb Jahren die Sicherheit und Zuverlässigkeit unseres Systems so weit auszubauen, dass wir auch ohne Sicherheitsfahrer fahren und unser Geschäftsmodell mit Kunden und Partner weiter validieren können.