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Chronische Überbelastung, keine Atempausen, Pflegekräfte, die im Eiltempo durch die Zimmer hetzen, Ressourcen am Limit. Das Stresslevel im Pflege-Alltag steigt. Fachkräfte fehlen – bis 2030 werden es 350.000 sein.* Durch Überalterung der Gesellschaft steigt der Bedarf rasant an. Das verbleibende Personal muss dringend entlastet werden.

Um den Marathon der Pflegekräfte zu beenden, hat Perspective Care einen Sensor entwickelt, der die Zimmer 24/7 überwacht. Bereits mehrere Pflegestationen wurden testweise mit dem innovativen Monitoring-Tool ausgestattet. Das Karlsruher Gründerteam startet damit eine der größten Pflegemonitoring-Installationen in Deutschland und schafft eine völlig neue Perspektive für Pflegeeinrichtungen.

Ariane Lindemann im Gespräch mit Fabian Höger.

In den Pflegeeinrichtungen brennt es an allen Ecken und Enden. Dem Personal bleibt meistens gar nichts anderes übrig, als durch die Zimmer zu hetzen. Du hast das in der eigenen Familie erlebt …

Ja, bei meinen Besuchen habe ich den Stress der Pflegekräfte hautnah miterlebt. Sie rennen den ganzen Tag hin und her und schaffen es vor lauter Stress oft nicht, allem gerecht zu werden. Nach der Schicht sind sie noch mit Dokumentationen beschäftigt. Das ist einfach zu viel. Das Pflegepersonal braucht dringend Unterstützung.

„… Wenn wir den Anspruch haben, in Deutschland Digitalisierung voranzutreiben, dann müssen wir das in jedem Bereich machen. Auch in der Pflege – und nicht nur bei Banken, Versicherungen oder Autobauern.“

Du wolltest da etwas verbessern …

Ja. Mein Team und ich haben 15 Jahre im Bereich Software-IT-Dienstleistungen gearbeitet. Wir predigen immer, wie wichtig Digitalisierung ist und unterstützen große Unternehmen in verschiedensten Branchen. Aber wenn wir den Anspruch haben, in Deutschland Technologie sinnvoll einzusetzen und Digitalisierung voranzutreiben, dann müssen wir das in jedem Bereich machen. Auch in der Pflege – nicht nur bei Banken, Versicherungen oder Autobauern.

Bei welchem Problem setzt ihr mit eurer Lösung an?

Ein sehr wichtiger Bereich in einer Pflegeeinrichtung ist das Erkennen von Notsituationen. Zum Beispiel, wenn jemand stürzt oder nicht mehr aufstehen kann oder wenn jemand aus dem Bett fällt. Der zweite wichtige Bereich ist die regelmäßige Umpositionierung, um ein Wundliegen zu verhindern.  Außerdem muss kontrolliert werden, dass Personen, die gerade operiert wurden oder aus anderen Gründen nicht aufstehen dürfen, auch wirklich im Bett bleiben. Deshalb muss regelmäßig nachgeschaut werden. Das alles ist sehr zeitintensiv und monoton für die Pflegekräfte.

Wie entlastet ihr das Personal?

Weil wir sämtliche Aktivitäten in einem Zimmer überwachen und an das Alarmsystem angeschlossen sind, müssen die Pflegekräfte nicht proforma nachschauen, sondern nur dann, wenn tatsächlich eine Aktivität aufgezeichnet wird. Das spart viel Zeit. Die Pflegekräfte kommen dann nicht mehr so sehr unter Druck, wenn sie beispielsweise gerade jemandem beim Toilettengang helfen, dass sie in dieser Zeit die anderen Bewohner*innen nicht im Blick haben und nicht reagieren können. Was wegfällt für die Pflegenden sind die regelmäßigen Nachschau-Gänge. Denn wenn eine Pflegekraft zum Beispiel nach 30 Personen schauen muss und für ein Zimmer zehn Minuten braucht, dann ist das bei der Vielzahl der sonstigen Tätigkeiten zeitlich einfach nicht machbar, ohne, dass etwas anderes zu kurz kommt.

„Wir machen den Notknopf überflüssig.“

Der Notknopf, den die Zimmer standardmäßig haben, bringt der nichts?

Der Notknopf gehört zwar zur Grundausstattung – das Problem ist nur: Wenn jemand gestürzt ist, kann er unter Umständen diesen Knopf gar nicht mehr drücken. Durch unser Monitoring können wir alle Aktivitäten wie Stürze etc., sofort erkennen. Wir machen den Notknopf überflüssig.

Wie läuft das Monitoring ab?

Der gesamte Raum wird permanent von oben bis unten mit nicht-sichtbaren Lasern abgetastet. Dieses „Structured Light“ kann man sich vorstellen wie ein Körperscanner am Flughafen. Der Vorteil: Alles läuft völlig unbemerkt ab und niemand wird dadurch beeinträchtigt.

Hast du ein konkretes Beispiel aus der Praxis?

Gerne. Eine Person, die im Bett liegt, kann man sich vorstellen wie eine große Punktwolke. Wenn sich zum Beispiel im oberen Teil des Bettes, also dort, wo Kopf und Schulter sind, lange gar nichts bewegt, dann wissen wir, dass wir Bescheid geben müssen, um einen Dekubitus, ein Wundliegen, zu verhindern.

Wie kann man die Bewohner*innen im Außenbereich absichern, zum Beispiel im Park?

Wir wollen in Zukunft Wearables anbinden. Die Technik funktioniert ja bereits gut, ist aber in Pflegeeinrichtungen noch nicht angekommen. Dafür gibt es zwei gute Gründe: Das eine sind demenzielle Patient*innen , die keine Armbänder tragen wollen und sie wieder ausziehen. Das andere ist tatsächlich die relativ geringe Akkulaufzeit der Geräte. Wenn man dann wieder die Pflegekraft beschäftigen müsste, um die Armbänder zu wechseln, wäre das wiederum zeitintensiv. Unser Hauptaugenmerk liegt deshalb zunächst auf dem Sensor. Aber wir behalten dieses Thema weiter im Blick.

Wie sieht es mit Trinkempfehlungen aus? Das ist ja auch ein wichtiges Thema in den Einrichtungen …

Das Trinken ist einer der Cases, die den Pflegeheimen sehr am Herz liegen. Trinken ist lebensnotwendig und wird oft vergessen. Auch haben ältere Menschen häufig kein Durstgefühl. Die Bewohner*innen regelmäßig daran zu erinnern, ist sehr wichtig – aber zeitintensiv. Hier wollen wir prüfen, wie man das digital unterstützen kann. Eventuell mittels einer Dehydrations-Erkennung, wie zum Beispiel eingefallene Augen oder ähnliches. Auch an diesem Thema sind wir dran.

Welche Voraussetzungen sind für eure aktuelle Sensor-Lösung nötig?

Wir interagieren mit den bereits bestehenden Pflegesystemen. Deshalb brauchen wir lediglich eine Steckdose und WLAN, um das Sensorgerät anzuschließen.

Thema Datenschutz?

Da wir an dortige Pflegesysteme andocken , haben wir keinen Zugriff auf persönliche Daten. Das macht uns außerdem DSGVO-konform, da wir nicht wissen, wer das vor dem Sensor ist. Es ist also auch nicht möglich, aus den Aufzeichnungen ein Echtbild zu generieren. Ebenso gilt beim Datenschutz das Gebot der Datensparsamkeit. Das heißt, dass diejenige Lösung zu bevorzugen ist, die weniger Daten für das gleiche Ergebnis benötigt. Dies ist ein deutlicher Vorteil gegenüber Lösungen mit Videokameras.

Wo ist der Sensor bereits im Einsatz?

Wir pilotieren aktuell in unterschiedlichen Pflegeformen. Die stationäre Pflege, Ferienkonzepte oder Tagespflegen gehören ebenso zu unseren Kund*innen wie ambulante Pflegedienste oder besondere Wohnformen. Damit decken wir das gesamte Spektrum ab. In der stationären Pflege haben wir bereits einen ganzen Gebäudeflügel mit 30 Zimmern ausgestattet. Das ist sicher eine der größten Pflegemonitoring-Installationen in Deutschland. Hier läuft gerade der 6-monatige Pilotbetrieb, bei dem wir weitere wertvolle Erfahrungen sammeln.

Wie ist das Feedback aus den Pflegeeinrichtungen?

Sehr gut! Wir haben eine hundertprozentige Zustimmungsrate. Im Vorfeld sprechen wir immer in einer Informationsveranstaltung mit der Pflegeleitung und mit allen Mitarbeitenden. Aber wir brauchen nicht nur deren Zustimmung, sondern auch die der Bewohner*innen und Angehörigen. Das ist sehr wichtig für die Akzeptanz und das Funktionieren der Maßnahme.

Kann es sein, dass die Bewohner*innen die Nachschaugänge vermissen? Ältere Menschen sind ja immer froh, wenn jemand kommt.

Im Gegenteil: Wir schaffen mehr Lebensqualität für die älteren Menschen und ihre Angehörigen. Weil die Pflegekraft nicht mehr nur auf dem Rundgang, sondern tatsächlich bei denjenigen Menschen sein kann, die mehr Zeit benötigen als andere.

Wie wichtig ist die medizinische Expertise im Team?

Die fachliche Komponente ist sehr wichtig. Thorsten hat eine intensivmedizinische Ausbildung, ist Mediziner und er kennt das Leben auf Pflege- und geriatrischen Stationen sowie  in Pflegeheimen.

„Wo sollen wir sonst ein IT-Startup gründen, das auch noch B2B unterwegs ist, wenn nicht hier in Karlsruhe?“


Wichtiges Feedback kam aus dem
CyberLab Accelerator in Karlsruhe. In welcher Form habt ihr davon profitiert?

Wir haben in erster Linie vom Austausch mit „neutralen“ Personen profitiert. Leute, die weder Freund*innen noch Geschäftskolleg*innen oder Pflegende sind. Um einzuordnen, wo wir stehen, ob unser Business Modell überzeugend ist und ob wir damit schon zu Kunden gehen können. Mit den Menschen im CyberLab, im CyberForum mit seinem großen Netzwerk, und vor allem auch mit anderen Startups ins Gespräch zu kommen, war große Klasse. Und jetzt hier in der Hoepfner-Burg, im Alten Malzwerk, unser Büro zu haben, das ist natürlich toll!

Warum Karlsruhe?

Das war für mich als Karlsruher eine Herzenssache. Und außerdem: Wo sollen wir sonst ein IT-Startup gründen, das auch noch B2B unterwegs ist, wenn nicht hier in Karlsruhe ?

 

* lt. Statista und Pflegevorausberechnung der Bertelsmann Stiftung (bertelsmann-stiftung.de)