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Menschen arbeiten immer häufiger in technischen Umgebungen. Während die Technik fortschreitet und Nutzerinterfaces (in vielen Fällen) immer besser und intuitiver werden, bleibt eine Schnittstelle immer noch schwierig zu bedienen: die zwischen Mensch und Mensch.

Fantastische Teamwesen und wo sie zu finden sind

Eine Situation in einer Retrospektive, mittelständisches, internationales Unternehmen,
deutsche Dependance. Ein Entwicklerteam auf dem Weg zur Agilität (vermutlich noch auf
unbestimmte Zeit) und ein Scrum Master.
Der Scrum Master stellt zu Beginn der Retro(spektive) eine offensichtlich für die
Teilnehmenden verwirrende Frage: “Wie ging es Deinem Sitznachbarn aka Kolleg*in zu
Deiner Linken im letzten Sprint?” Die Frage geht reihum.

Die Software-Enwickler*innen in dieser Runde sind entsetzt. “Wie ging es der Person neben
mir in den vergangenen 2 Wochen?”, will der Scrum Master wissen. Alle schauen sich
einigermaßen verwirrt an, soweit das in einem teams-Meeting überhaupt geht.
Nachdem die erste Person mehr oder weniger freiwillig begonnen hat mit einem “Ich weiß
gar nicht so genau, wie es Person XY neben mir ging …”, fühlen sich die Teammitglieder
nach und nach mehr in die Aufgabe ein. Es geht nicht darum, genau zu wissen, wie die Zeit
für die Person war oder besonders exakt zu raten – es geht um Empathie und
Kommunikation, um Einschätzung und ein gemeinsames Gefühl beim Einschätzen.

Eine andere Person in der Runde ist blockiert. “Ich kann diese Person nicht lesen, woher soll ich wissen, was sie gefühlt und erlebt hat?” Die betroffene Person nickt sofort vehement und springt gleich zur Hilfe: “Ja, das würde ich für mich auch sagen: woher soll er das über mich oder ich über ihn wissen?”

So weit der Auszug dieses “Experiments”. (Agile) Teams sind es mittlerweile gewöhnt, dass
über Zusammenarbeit, Verbesserung von Geschwindigkeit, diverse Themen wie Rollen,
Zuständigkeiten, Sinn und so weiter gesprochen wird – aber diese Übung überfordert viele,
nicht alle. Was ist hier passiert?

Mensch – Maschine – Mensch

Häufig setzen sich Personen, die mit Technik/in technischen Umgebungen arbeiten, sei es
Hardware- oder Software-Entwicklung oder etwas ganz anderes, in eine relativ einfache
Relation zur Technik. Sie können häufig auch gut das beschreiben, was “menschliche
Schnittstelle” eigentlich meint: Eine Mensch-Maschine-Schnittstelle oder auch
Benutzerschnittstelle, die zur Mensch-Maschine-Interaktion in einem
Mensch-Maschine-System (MMS) dient. Dank einer Benutzerschnittstelle kann ein Mensch
also mit einer Maschine in Kontakt treten, diese z. B. steuern.

An dieser Stelle soll der Begriff bewusst anders eingesetzt werden. Menschliche
Schnittstellen meinen menschliche Systeme, die mit anderen menschlichen sowie
technischen Schnittstellen zusammenwirken, kommunizieren, arbeiten (oder eben auch
nicht).

Klassisch werden Menschen dazu ausgebildet, Maschinen zu programmieren, zu bedienen,
in direkte Interaktion zu treten. Aktuell entwickelt sich Arbeit in vielen Gebieten und
Branchen weg von Einzelaktion:innen hin zur “Teamarbeit” und zur “Partizipation”.
Gemeinsam sind größere Projekte stemmbar, gemeinsam hat man mehr Perspektiven,
gemeinsam sind mehr Fähigkeiten abgedeckt und Möglichkeiten vorhanden. So erst einmal
die Grundannahme.

Gemeinsam sind wir … schlauer/blöder/gleich?

Was brauchen diese menschlichen Schnittstellen dann also, um gut miteinander und im
Zusammenspiel mit technischen Schnittstellen “gut” arbeiten zu können?
Diese Frage stellen sich nicht nur große Organisationen und Firmen, sondern die
Herausforderung beginnt häufig schon in kleinen Start-ups, bei einer Komplexität von zwei
oder drei menschlichen Schnittstellen (plus x technischen).
Kaum mehr Zeit, miteinander über alles zu sprechen, Meeting nach Meeting, verwaschene
Grenzen zur “Frei-zeit”, es gibt eine Menge fachlicher und inhaltlicher Themen, die
menschliche Schnittstellen auf Trab halten, aber auch überfachliche Dinge: Organisation,
Transformation, Struktur, Teamzusammenarbeit, Kundenfeedback und andere Dinge, die
den “Rahmen” bzw. die Umwelt des “Systems” betreffen.

In einer Umgebung oder Umwelt, in der Menschen mittlerweile häufig remote/virtuell
arbeiten, kommen häufig zusätzliche technische Schnittstellen und Hilfsmittel hinzu –
teams/Zoom, Miro/Mural und viele mehr. Während der Hochzeit der Corona-Pandemie
waren viele virtuellen Hilfsmittel/Arbeitsumgebungen eine willkommene Erleichterung und
Risikenminderung – zugleich war häufig zu hören, dass dies die “Distanz” zwischen den
Menschen erhöht habe, den Arbeitstakt (gar keine Pausen zwischen teams-meetings) erhöht
und die Menschen trotz vieler Menschen vereinzelt habe; paradoxerweise bei Zunahme
positiver Erfahrungen: kein langer Weg zur Arbeit, keine Pendelei, Arbeit kann selber
eingeteilt werden und so weiter.
Jetzt stellen sich viele Firmen die Frage: zurück ins Büro für alle – oder weiter im virtuellen
Modus – oder beides?

Also, was tun? Das scheint doch alles nach Reduktion der Komplexität zu schreien? Jede:r
kennt vermutlich 3-Stunden-Diskussionen, die im Nichts enden, ewige Meetings ohne echte
Entscheidungen oder Beschlüsse (“Dieses Meeting hätte eine E-Mail sein können, die ich
gerne nicht gelesen hätte”), kommunikative downward-spirals in Teams/zwischen
Mitarbeitenden, Problemtrancen a la “Das haben wir doch alles schon versucht, warum jetzt
noch mehr Gerede und Meetings zwischen den Leuten”.

Paradoxe Intervention: Wie, welche Formation, nicht: wieviel

Zum Einen: Die Zusammenarbeit menschlicher Schnittstellen ist gestaltbar, auch unter
Einbezug technischer Inhalte und Hilfsmittel. Genannt seien hier allen voran und beispielhaft
die Liberating Structures, ein Methodenset, das es zu großer Beliebtheit am Rande der
agilen Community gebracht hat, ohne selbst zu den agilen Methoden zu gehören. Von zwei
Kanadiern, wie sie selbst sagen, zusammengetragen eine Sammlung verschiedener
Methoden, um die Partizipation von menschlichen Schnittstellen in den Vordergrund zu
stellen; und zugleich der Versuch, mit sehr einfachen Methoden auf Augenhöhe kurzfristig
Formationen zu bilden, die schnell Ideen generieren, demokratische Entscheidungen treffen
und vieles mehr – jenseits der eingeübten und oft auch eingefahrenen Arbeitsmuster in der
Organisation.

Zum Anderen: Communities, freiwillige und häufig temporäre Zusammenschlüsse
menschlicher Schnittstellen, um an bestimmten Themen zu arbeiten, Erfahrungen
auszutauschen, Perspektive zu wechseln, neue Handlungsoptionen zu gewinnen. Schaut
man hier auf die aktuell gelebte Kultur, gerade auch am Rande agiler Communities, findet
man viele interessante Techniken und Methodensets, Veranstaltungen, Events und so
weiter, um gemeinsam Dinge zu erreichen und das Zusammenspiel zu stärken.

Als weitere Beispiele können hier Großgruppenmethoden dienen, von
Bürgerbeiligungsmethodiken der 1980er-Jahre wie der fast vergessenen “Zukunftswerkstatt” bis hin zu Open Space, World Cafe & Co.; aber auch elaboriertere Methoden wie die Kollegiale Fallberatung oder das Peer-to-peer-learning können in Systemen/Organisationen große Wirkung entfalten, wenn sich die Teilnehmenden auf bestimmte Spielfeldränder und ein gemeinsames Ziel einigen (ansonsten droht wieder die oben genannte Endlos-Schleifen-Gefahr; wobei Schleifen kybernetisch betrachtet an sich produktiv sein können, wenn man bei jeder Iteration etwas gemeinsam aus der vorigen lernt). Damit einhergeht mittlerweile ein verstärktes gemeinsames Nachdenken über Themen wie: Was ist der Sinn des Unternehmens? Was sind Ziele jenseits der Gewinnermaximierung und Skalierung; zum Beispiel “Social Entrepreneurship”, psychological safety der Mitarbeiter*innen, Verbesserung von Arbeitskultur, Gleichberechtigung, Familienverträglichkeit von Rollen, Kundenorientierung und Feedback und vieles mehr.

Und nein, die Frage schwebt gegebenenfalls gerade in den lesenden Köpfen: diese
Perspektive auf Arbeit(skultur) macht die Sache nicht weniger komplex und auch nicht
einfach; aber sie schafft vielleicht intrinsische Motivation, Arbeitsumwelten gemeinsam
gestaltbarer und zugänglicher, vielleicht sogar sinn-voller zu machen, im besten Falle ohne
signifikante Einbußen an Zeit und anderen Ressourcen.