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Mit acht Jahren betreibt er eine eigene Entenzucht. Macht erste Umsätze. Mit 13 schreibt er Programme. Mit 19 gründet John Achim Holzhauer das erste Startup. 2021 erweckt er das dritte Startup zum Leben. Ein Volltreffer (nicht nur) für die Automotive-Branche. Denn wenn man überlegt, dass das gesamte deutsche produzierende Gewerbe pro Minute eine halbe Million Euro an Qualitätskosten verliert, kommt die KI-Lösung von Semorai einer Erlösung gleich. Das Team sahnt bereits Preise und Fördergelder ab. Das produzierende Gewerbe darf sich freuen.

Ariane Lindemann im Gespräch mit John Achim Holzhauer

Warum ächzt die Wirtschaft unter Qualitätskosten in Milliardenhöhe?

Ziel jedes Unternehmens ist eine Null-Fehler-Produktion. Hohe Qualität, kurze Produktionszeit und minimale Kosten. Kürzer werdende Innovationszyklen, steigender internationaler Wettbewerb und zunehmende Ansprüche von Kundenseite stellen Produktionsunternehmen allerdings vor riesige Herausforderungen. Um potenzielle Fehlerquellen in Produktionsprozessen zu erkennen und zu analysieren, ist ein optimales und frühzeitiges Fehlermanagement notwendig. Zeit- und Personalressourcen hierfür fehlen jedoch in den meisten Fällen.

Warum ist das gefährlich? 

Je später man Fehlerpotential im Produktlebenszyklus identifiziert, desto höher die Qualitätskosten. Nach der sogenannten Zehnerregel wachsen diese exponentiell von Produktionsstufe zu Produktionsstufe um den Faktor von zehn. Deshalb ist es essenziell, die Fehlerpotenziale bereits in der Entwicklung zu identifizieren, Optimierungsmaßnahmen zu ergreifen und so das Restrisiko systematisch zu reduzieren und managebar zu machen.

Welche Möglichkeiten der Fehleranalyse gibt es?

Im Qualitätsmanagement, beispielsweise in der Automobilbranche, wird in der Regel eine sogenannte Fehler-Möglichkeits- und Einfluss-Analyse (FMEA) durchgeführt. Sie ermittelt, aus welchen Bauteilen ein Produkt besteht und welche Funktionen und Merkmale diese Bauteile haben. Bislang ist es so, dass man pro Komponente circa 12 Stunden braucht. Bei sehr komplexen Komponenten bis zu 30 Tagen. In der Automobilbranche ist die FMEA verpflichtend. Bei einem Tesla beispielsweise sind es 3.000 und bei einem normalen Verbrennermotor sind es bis zu 10.000 Komponenten. Das heißt, eine FMEA kostet bei einem Auto rund 10 Millionen Euro. Das ist nicht nur teuer, sondern auch personalintensiv.

Für den Mittelstand ist diese Art der Fehleranalyse sicher nicht attraktiv? 

Im Gegenteil. Zeit- und Ressourcenmangel machen eine Analyse des Fehlergeschehens im größeren Gesamtzusammenhang in den meisten Fällen unmöglich. Die Folgen sind hohe Qualitäts- und Gewährleistungskosten oder gar Image-Schäden. Pro Minute verliert die deutsche Industrie eine halbe Million Euro an Qualitätskosten. Das sind 300 Milliarden Euro jedes Jahr.

Ihr habt eine smarte Fehlermanagement-Lösung entwickelt …

Wir nennen das „KI-basierter Qualitätsingenieur“. Hier steht eine selbstlernende KI im Mittelpunkt, die sich einen Wissensvorrat aus diversen Quellen aneignet, dadurch reale Zusammenhänge versteht und selbstständig eine tiefgreifende Fehleranalyse durchführt. Dadurch steht sie den Mitarbeitenden nicht nur während der hochkomplexen Konstruktions- und Produktionsprozesse zur Seite, sondern unterstützt unternehmensübergreifend beim Fehlermanagement.

Vom Enten-Entrepreneur zum Seriengründer …
Das Unternehmertum hat dich schon früh gepackt?

Ich bin in der Landwirtschaft groß geworden, mein Vater hatte einen Geflügelbauernhof, da habe ich immer viel mitgeholfen. Das war eine wunderschöne Kindheit. Mit sechs Jahren habe ich so mein erstes eigenes Geld verdient. Mit acht habe ich mir eine eigene Entenzucht zugelegt. Mit indischen Laufenten, die sind bekannt dafür, dass sie Schnecken fressen. Ich habe sie an Leute mit Gemüsegärten vermietet und meinen ersten Umsatz gemacht.

Mit 13 habe ich angefangen, Webseiten zu programmieren und mich für Startups zu interessieren. Ich habe meinen Kopf darauf trainiert, statt Probleme zu sehen, umsetzbare und praktische Lösungen zu suchen.

Das erste „richtige“ Startup kam mit 19: Eltern konnten auf deinem Portal Schulbedarf für ihre Kids kaufen …

Zusammen mit meinem damals besten Freund habe ich die Daba OHG in Bühl gegründet. Mit der Marke Schulfreund haben wir den jährlichen Schulbedarf-Einkauf für Eltern automatisiert. Dafür haben wir mit Lehrern gesprochen, was die Kinder brauchen, und die Eltern konnten das dann mit einem Klick bei uns im Onlineshop bestellen. Das kam super an. Leider hat es im Team dann nicht mehr gepasst und ich habe die Firma an meinen Mitgründer übergeben.

Auch die Social-Media-Seite „Bock auf Karlsruhe“ stammt aus deiner Feder …

Ja. Während meines Wirtschaftsingenieursstudiums am KIT habe ich gemeinsam mit Chris Wehle, der die Idee zu „Bock auf Karlsruhe“ hatte, das Projekt mitangeschoben. Wir wollten ursprünglich eine Empfehlungsplattform für Studierende für Locations und Events bauen, auf der die höheren Semester den Erstis erklären, wo man hingehen kann, wo es coole Parties gibt etc. Kurz vor der Gründung ist mein Vater plötzlich verstorben und ich bin wieder nach Hause gezogen, um meine Mutter zu unterstützen. Danach kam auch Corona.

Ihr habt dann aber die dritte Rakete gezündet …

Im April 2021 habe ich beim SDaCathon der Forschungsgruppe SDaC meinen Co-Founder Joe kennengelernt. Gemeinsam haben wir Semorai gegründet. Er hat am KIT Elektro- und Informationstechnik studiert, entwickelt schon seit seiner Jugend – in den letzten Jahren hauptsächlich Künstliche Intelligenz – und hat mehrere Publikationen im Bereich KI veröffentlicht. Wir haben bei diesem Hackathon gemerkt, dass wir uns sehr gut ergänzen. Ich mit dem wirtschaftlichen und er mit dem KI-Fokus.

Was macht die KI von Semorai genau?

Anhand diverser Quellen lernt die KI die realen Zusammenhänge rund um das Produkt kennen und führt eigenständig eine Fehlerpotenzialanalyse durch. Somit sind bereits in der Konstruktionsphase Fehlerpotenziale und deren Einflussfaktoren ersichtlich.

Anhand von Echtzeitdaten, unternehmensübergreifendem Wissen und Lieferanten- und Kundeninformationen werden die identifizierten Fehlerpotenziale während der Produktion und der Produktnutzung überwacht. Dadurch ist eine Vorhersage von Fehlersituationen mit bis zu 95-prozentiger Genauigkeit möglich.

Die KI schlägt dem Mitarbeitenden oder Anwendenden automatisch passende Gegenmaßnahmen zur Vermeidung der Fehlersituation vor. Tritt diese dennoch ein, hilft sie bei einer schnellen Identifikation und Behebung der Fehlerursache.

Damit fallen bestimmte Schritte im Qualitätssicherungsprozess weg? 

Ja, denn der KI-basierte Qualitätsingenieur für intelligentes Fehlermanagement ist so etwas wie ein virtueller Assistent, der den Mitarbeitenden Arbeit abnimmt. Unsere Mission ist es, Ingenieurinnen und Ingenieuren mehr Freiheit zur Entwicklung hochinnovativer Lösungen für die Herausforderungen unserer Generation zu verschaffen.

Die Lösung, um Qualitätskosten drastisch zu reduzieren …?

Das Potenzial dahinter ist, dass wir mit unserer Lösung bis zu 80% des Aufwands für eine FMEA reduzieren, dadurch die Hürde für den Mittelstand reduzieren diese Methode überhaupt erstmals anzuwenden und damit die Möglichkeit bieten, Fehlerpotentiale bereits in der Entwicklungsphase eines Produktes zu identifizieren und aufzulösen. Hierin steckt der größte Hebel zur Lösung der exponentiell wachsenden Qualitätskosten und ermöglicht es den Unternehmen somit, ihre Qualitätskosten um bis zu 35% zu reduzieren. Das hat einen immensen Einfluss auf die EBIT-Marge und stärkt somit die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie.

Die Prozessebene ist dann euer nächstes Ziel? 

Genau. Wir haben ein interdisziplinäres Team mit Altersschwankungen zwischen 18 und 62 Jahren und können bei Fragen auf ein exzellentes Advisory-Board aus verschiedenen Bereichen zurückgreifen. Wir haben aber auch auf Kundenseite eine extrem hohe Nachfrage – auch aus dem Medizintechnikbereich. Aktuell arbeiten wir in einem Pilotprojekt mit einem großen Automobilkonzern.

Ihr habt Preise und Fördergelder abgeräumt …

Joe und ich kamen direkt von der Uni und mussten schauen, wie wir uns einen finanziellen Puffer aufbauen können. Deshalb haben wir uns für ein paar Preise, bzw. Förderungen beworben. Wir haben alles gewonnen, was wir gewinnen konnten. So haben wir den AI-Cup, einen KI-Wettbewerb der Universität Passau, gewonnen und hätten eine Förderung in Höhe von 100.000 Euro vom Land Bayern erhalten, aber durch die zeitgleiche Zusage des EXIST-Gründerstipendiums durften wir diese wegen des Doppelförderungsgesetzes nicht annehmen. Dann wurden wir über Siemens zu Stage Two eingeladen. Das ist der größte paneuropäische Wettbewerb für die besten Startups aus europäischen Universitäten. Dort haben wir dann einen Investment Award von Earlybird geholt von 100.000 Euro. Dann haben wir uns noch bei Slush Heilbronn bei einem Pitch-Battle beteiligt, haben das goldene Ticket gewonnen und wurden damit quasi das erste Startup im ersten Batch des AI-Founders Programm von Campus Founders. Insgesamt kamen rund 350.000 Euro zusammen.

Den CyberLab Accelerator habt ihr trotz Startup-Erfahrung mitgenommen. Warum? 

Bei meinen ersten Startups war es eher so eine Hands-on-Mentalität, nach dem Motto: Ich mach einfach mal. Bei Semorai wussten wir schnell, dass es was Größeres wird. Deshalb wollten wir aus dem Accelerator viel Wissen mitnehmen, wie man das ordentlich strukturiert. Wir befinden uns in einem breiten Interessensumfeld, wo man bestimmte Rahmenbedingungen berücksichtigen muss. Wie gestalte ich eine Produktiteration? Wie validiere ich mein Produkt? Was muss ich über Steuern wissen? Auf der anderen Seite konnten wir hier ein sehr gutes Netzwerk aufbauen. Das hat uns deutlich weitergeholfen.

Ihr seid im neuen Smart Production Park des CyberLab Karlsruhe. Wie fühlt ihr euch?

Das ist eine sehr coole und schöne Location. Durch das offene Flair mit großen Fenstern zum Gang hin, durch die man immer sehen kann, wer gerade vorbeiläuft, entsteht eine sehr fröhliche und kollegiale Atmosphäre. Man kann sich austauschen und von Anfang an mitgestalten, wie sich die Community entwickeln wird.

Welchen Kundenkreis steuert ihr an? 

In erster Linie Automotive, OEMs, Tier One und Tier Two-Zulieferer. Das Schwierige bei Automotive sind die sehr langen Sales-Cycle. Deshalb orientieren wir uns auch an verschiedenen anderen Marktsegmenten. Wir werden dieses Jahr noch ein paar andere Pilotprojekte durchführen, zum Beispiel im Bereich von Chemie und Pharma, aber insbesondere auch im Bereich Medizintechnik, weil wir hier sehr viele Anfragen bekommen.

Das Interessante ist, unsere KI ist sehr gut generalisierbar und skalierbar, weil man nur domänenspezifisches Wissen aufbauen muss. Hat man das einmal aufgebaut, kann man damit den kompletten Markt bedienen.

Semorai – der Name ist … 

… dem Japanischen entlehnt. Aus Japan schwappte in den Neunzigern das Thema Qualitätsfokus zu uns nach Europa. Wir automatisieren diese wissensbasierten Methoden durch den Einsatz künstlicher Intelligenz, der sogenannten semantischen AI.