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Schichtleiter sind Dauerläufer. Zehn Kilometer pro Tag ist für viele normal. Aber nicht draußen in der Natur, sondern in Form von Sprints zwischen den verschiedenen Stationen in der Produktionshalle. Diese Erfahrung macht Christian Wild seit mehr als 15 Jahren. Er arbeitet als Berater im Produktionsumfeld. „Bei unvorhergesehenen Veränderungen im Produktionsablauf sind diese Leute wie Feuerwehrmänner, die versuchen, den Prozess so gut wie möglich am Laufen zu halten.“ Schlechte Resilienz in der Produktion kostet einen Mittelständler knapp eine halbe Million Euro im Jahr. „Kann man vermeiden“, sagt der Experte. Um flexibler auf Änderungen reagieren zu können, entwickelt er mit AMEXIS KI-Algorithmen, die die Feinplanung optimal orchestrieren. Quasi als Gehirn der Produktion.

Von Ariane Lindemann

Wie kommt es zu unvorhergesehenen Ereignissen im Produktionsprozess?

In erster Linie hemmen Materialengpässe oder Fehlplanungen den Produktionsfluss. Aber auch Prioritätsverlagerungen, wenn bestimmte Produktionen vorgezogen werden oder ähnliches. Dann kommen Produktionsleiter und Schichtleiter ganz schön unter Druck, weil das den kompletten Produktionsplan über den Haufen wirft.

Du bist als Produktionsberater ganz nah an den Prozessen …

Durch meine langjährige Tätigkeit in der Produktionsberatung habe ich tiefen Einblick in die Abläufe. Deshalb verstehe ich die Leute sehr gut. Ich kommuniziere mit Werksleitern, Produktionsleitern und Planern auf Augenhöhe und weiß, was sie brauchen und wo es wehtut.

Du erlebst täglich, was es bedeutet, wenn sich ein Auftrag verzögert …

Bei Materialengpässen zum Beispiel haben Maschinen oder andere Ressourcen Wartezeiten und Arbeitsstationen bleiben ungenutzt. Das ist nicht nur hochgradiger Stress für die Mitarbeiter, sondern kostet das Unternehmen auch richtig viel Geld. Die Mitarbeiter müssen schnell reagieren und alles neu berechnen. Das ist ein sehr manueller Prozess. Mit einer Excelliste braucht er dafür zwei Tage. Im Produktionsalltag sind allerdings solche Ereignisse absolut an der Tagesordnung. Die Feinplanung ist deshalb eine der größten Herausforderungen in der industriellen Produktion.

Du wolltest was tun, um dieses Problem zu verringern und hast eine KI-Software entwickelt. Was kann sie?

Die Idee war, eine Software zu entwickeln, damit die Mitarbeiter strukturierter arbeiten und besser agieren können. Es geht uns darum, resiliente und stabile Arbeitsprozesse zu schaffen. Wir helfen Unternehmen, unvorhergesehene Probleme mit einer selbstoptimierenden Produktionsplanung mit KI zu bewältigen, um Kosten zu senken, die Effizienz zu steigern und pünktlich liefern zu können. Unser großes Ziel ist es, irgendwann das Gehirn der Produktion zu sein.

Wie funktioniert das? 

Sämtliche Ressourcen wie Maschinen und Maschinengruppen, Mitarbeiter und Schichten werden in der selbstoptimierenden Feinplanung erfasst, um die Kapazitätsauslastung zu maximieren. Aufgrund von IST-Updates aus der Produktion ermittelt die KI dynamisch die optimale Feinplanung für die gesamte Produktionslinie.

Hast du ein konkretes Beispiel für uns?

Nehmen wir einen Fahrradhersteller. Dieser produziert zwei unterschiedliche Modelle auf fünf Arbeitsstationen: Rad, Rahmen, Sattel, Zusammenbau und Qualitätssicherung. Haben die Modelle unterschiedliche Rahmen, muss ich vorausschauend planen, wann der Wechsel an der Rahmenstation stattfindet und welche Menge ich brauche. Das Ganze soll ohne Wartezeiten reibungslos in den Produktionsfluss integriert werden. Das ist jetzt nur ein einfaches Beispiel. In der Regel hat man wesentlich mehr Arbeitsstationen, die man orchestrieren und steuern muss.

Mit AMEXIS garantiert ihr diesen reibungslosen Ablauf?

Ja. Wenn jetzt eine Station, wie in unserem Beispiel der Rahmen länger dauert als geplant, kommt sofort eine Rückmeldung und unsere Software plant diesen und die weiteren Aufträge im Hinblick auf die einzelnen Stationen so effizient wie möglich um. Das heißt, wir schauen, was in diesem Fall am meisten Sinn macht auf Basis der Informationen, die wir aus dem Produktionsprozess erhalten und orchestrieren das Ganze neu. Mitarbeiter an der Linie können so bereits bei der Bearbeitung vorausschauend Abweichungen buchen, die als Grundlage für eine Neuberechnung der Feinplanung genutzt wird.

„Wir wollen die Nr. 1 in der dynamischen Feinplanung mit KI für den Mittelstand sein.“

Wieviel Know-how brauchen die Mitarbeitenden? 

Die KollegInnen an den Arbeitsstationen müssen lediglich einen Screen bedienen. Das ist so einfach wie das Benutzen eines Geldautomaten. Ihre Kunden- und Fertigungsaufträge werden inklusive Status in einer Liste angezeigt. Sie müssen lediglich die Zeiten, bzw. Verzögerungen eingeben und die Fertigstellung bestätigen.

Dürfen Unternehmen sich schon bald auf ihr neues „Gehirn in der Produktion“ freuen?

Für die Entwicklung des Prototypen haben wir in den letzten Monaten sehr viele Interviews geführt und das Feedback entsprechend umgesetzt. Wir sind gerade dabei, unser MVP fertigzustellen und wollen dann im Januar mit Pilotkunden starten.

Wie managst du beide Jobs gleichzeitig? 

Für AMEXIS arbeite ich früh morgens, abends, am Wochenende – also immer dann, wenn ich nicht als Berater tätig bin. Wir sind ein Remote-Team aus sechs Leuten. In der Mittagspause haben wir außerdem unseren täglichen Huddle.

Eine erste Partnerschaft kam jetzt über das CyberLab zustande … 

Ja, wir sind gerade in Gesprächen mit dem Ziel, in ein Kundenprojekt reinzukommen. Das Netzwerk im CyberLab Accelerator war für uns dabei sehr hilfreich. Wir haben insgesamt sehr vom CyberLab profitiert. Vor allem in Sachen Team-Building, wie man Pilotprojekte angeht oder Partner findet, die es einem ermöglichen, mit dem Produkt bei Systemhäusern anzudocken. Uns hat es schon sehr geholfen, verschiedene Sichtweisen mitzubekommen, auch was das Businessmodell oder das Pricing anbelangt.

Viele Menschen haben Angst, dass KI gerade im Produktionsumfeld zur Arbeitslosigkeit führt. Wie siehst du das? 

Meine Erfahrung ist: Die Leute haben keine Angst. Im Gegenteil, sie wären eher froh, hier mehr Unterstützung zu bekommen, denn die Nachfrage bleibt. Wir werden irgendwann eher das Problem kriegen, dass wir zu wenig Menschen haben. Die Prognosen gehen dahin, dass bis 2030 fünf bis sieben Millionen Leute in Deutschland in den Betrieben fehlen, weil sie in Rente gehen. Und selbst die wenigen, die da sind, können und wollen sich dieser Belastung nicht mehr aussetzen. Deshalb wird KI nicht zur Arbeitslosigkeit führen. Sondern wir werden froh sein, dass wir etwas haben, das uns – wie ein Assistenzsystem beim Auto – unterstützt, die Produktion einfacher zu gestalten.