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Schnell beim Arzt telefonisch ein Rezept bestellen? Glückstreffer, wenn man durchkommt. Geduld ist angesagt, wenn man in Arztpraxen, bei Ämtern oder Behörden jemanden erreichen will. Kein Wunder. In den meisten Fällen sind die MitarbeiterInnen einfach überlastet. VITAS will mit seinem virtuellen Telefonassistenten im Kunden- und Patientenservice wieder für hundert Prozent Erreichbarkeit sorgen und eine top Beratungsqualität schaffen.

Ariane Lindemann spricht mit Tobias Bäumler über das KI-Tool, das schon in einigen Arztpraxen bereits erfolgreich im Einsatz ist.

Nichts ist nerviger, als wenn beim Arzt keiner ans Telefon geht …

Wenn man sieht, was in einer Arztpraxis den ganzen Tag los ist, muss man sich nicht wundern, dass man telefonisch oft nicht durchkommt. Das Tagesgeschäft in einer Praxis ist sehr komplex. Während der Pandemie waren viele Arztpraxen zudem nicht nur mit Impfungen und Behandlungen beschäftigt, sondern auch mit telefonischen Fragen besorgter PatientInnen. Das muss man zusätzlich zu den regulären Aufgaben erst mal schaffen.

Mit eurer Idee rennt ihr jetzt also offene Praxistüren ein?

Absolut. Wir wollen Arztpraxen und auch andere Einrichtungen mit unserem Telefonassistenten unterstützen. Zum einen wollen wir das Personal entlasten, damit es sich nicht mehr um die eingehenden Telefonate kümmern muss. Zum anderen verbessern wir den Patientenservice, indem wir rund um die Uhr einen virtuellen Ansprechpartner zur Verfügung stellen, der sämtliche Anliegen bearbeitet.

Das heißt, Warteschleife und Besetztzeichen waren gestern?

Ja, denn unser Sprachassistent nimmt beim Anruf sämtliche Daten auf, wie Namen, Versicherungsnummer und weitere Angaben, je nach Anliegen. Möchte jemand zum Beispiel ein Rezept bestellen, wird er zusätzlich aufgefordert, den Namen des Medikamentes einzugeben. Die Praxis legt selbst fest, welche Angaben sie vom Patienten braucht. Im Fall der Rezeptbestellung kann zum Beispiel ein Termin hinterlegt werden, ab wann das Rezept abholbereit ist oder ähnliches. Die Benachrichtigung kann über SMS erfolgen oder über einen automatisierten Rückruf. Das alles entscheidet der Arzt, bzw. die Praxis selbst, je nachdem, welcher Service abgebildet werden soll oder wo Entlastung benötigt wird. Das können Terminvereinbarungen, Krankenscheine, Atteste oder Überweisungen und ähnliches sein. MitarbeiterInnen können die eingehenden Anrufe dann in einer von ihnen selbst gewählten Zeit bearbeiten.

Eigentlich war euer Tool für die Gastronomie gedacht …

Im Februar 2020 hatten wir unseren Marktstart in der Gastronomie. Der Telefonassistent wurde für Anfragen und Reservierungen eingesetzt. Sechs Wochen lief es ganz gut, Mitte März wurde die Gastronomie dann wegen der Pandemie dicht gemacht. Der komplette Markt ging uns verloren.

Jetzt könnte man sagen: Schlechtes Timing. Aber ihr habt einfach die Zielgruppe gewechselt.

Wir haben den Assistenten dann so umgebaut, dass er Standardfragen zu Corona beantwortet. Über die Nummer des Notärztlichen Bereitschaftsdienstes 116117 wurden alle Fragen zu Corona auf den Telefonassistenten umgeleitet. Das waren Fragen zu Symptomen, Risikogebieten, Attesten usw. Damit haben wir der Kassenärztlichen Bundesvereinigung eine Plattform zur Verfügung gestellt, auf der sie die Antworten selbst aktualisieren konnte. Was sich als Riesenvorteil herausstellte, da sich zweimal am Tag die Lage änderte.

Wir haben in 15 Monaten mehr als 50.000 Anrufe verarbeitet, die dadurch nicht beim Personal gelandet sind, das ja in der damaligen Situation extrem stark gefordert war.

Das schnelle Umswitchen auf eine andere Zielgruppe hat auch unseren ersten Investor überzeugt. Er war bereit zu investieren, weil er gesehen hat, dass wir agil sind und auf neue Marktsituationen reagieren.

Wo kann VITAS noch zum Einsatz kommen?

Im Prinzip überall dort, wo Kundenservice und telefonische Kommunikation wichtig ist. Das können Behörden sein, Gemeinden, Ärzte. Inzwischen sind wir auch mit taxi.de in einer Kooperation für Taxizentralen und nehmen Taxibestellungen entgegen. Darüber hinaus läuft ein Projekt mit einem Schweizer Luxushotel mit 16 verschiedenen Abteilungen, das wir an der Rezeption entlasten.

Wir haben schnell gemerkt, dass der Bedarf in verschiedenen Branchen vorhanden ist. Deshalb war der nächste Schritt, eine Plattform aufzusetzen, die vom Kunden selbst konfiguriert werden kann.

Das war der Grund, euch für den CyberLab Accelerator zu bewerben?

Ja. Denn wir wollten herausfinden, was wir noch besser machen können. Diese Plattform ermöglicht es jetzt Unternehmen jeglicher Branche mit vielen Standardanrufen, ihren eigenen Assistenten zu konfigurieren und das ohne technische Kenntnisse. Uns war besonders wichtig, dass es simpel ist. Nur so kann es in der Breite auch leicht angewendet werden.

Welche Branche hat momentan Priorität?

Wir haben festgestellt, dass besonders Arztpraxen dieses Tool sehr gut brauchen können, denn sie werden mit Anrufen wirklich überrannt. Wir haben zum Beispiel eine Gemeinschaftspraxis mit zwei Ärzten, die rund 6.500 Anrufe im Monat bekommen, die über unser System laufen. Die würden manuell gar nicht mehr hinterherkommen.

Hat das noch mit Corona zu tun?

Schon auch, aber ein sehr großer Teil sind Standardanfragen, wie Rezeptverlängerungen oder Termine.

Wie reagieren ältere Menschen, die mit digitalen Tools wenig am Hut haben, auf den virtuellen Telefonassistenten?

Erstaunlich gut. Weil ältere Menschen besser zuhören. Aber wir unterstützen die Praxen, indem wir Infomaterial zur Verfügung stellen, wie Downloads oder Plakate für die Praxis, um eine gute Akzeptanz für das Thema zu schaffen. Die PatientInnen sollen wissen, dass sie nicht auf die Abstellbank kommen, sondern im Gegenteil, dass diese Umstellung notwendig ist, um weiterhin gut erreichbar zu bleiben und den Service noch weiter zu verbessern.

Was ist, wenn ich Schmerzen habe? Muss ich dann mit einem Roboter sprechen?

Das ist eine wichtige Frage. Der Optimalfall im Praxisalltag sieht so aus, dass eine freundliche und gut gelaunte Praxishelferin das Telefon beim ersten Klingeln abnimmt. In der Realität sieht das ja bekanntlich oft anders aus. Da stoßen die PatientInnen eher häufig auf ein Besetztzeichen. Wenn ich wirklich einen Notfall habe, muss ich die 110 anrufen und kann nicht beim Arzt anrufen.
Es stimmt, dass man mit VITAS nicht mehr mit einem echten Menschen spricht. Aber die Anliegen werden dennoch umgehend geklärt. Allerdings in einem für alle viel effizienteren Modus.

Welchen ganz konkreten Benefit habt ihr aus dem CyberLab Accelerator mitgenommen?

Toll war natürlich das Netzwerk, denn mit unserem KI-Fokus war Feedback aus dieser Richtung sehr wichtig. Wir haben in dieser Zeit auch unsere Strategie noch mal komplett hinterfragt. Ein konkretes Learning war, dass es besser ist, ein Trial anzubieten, weil das einfach Standard ist. Manchmal sind es Dinge, die einem im Doing gar nicht so auffallen, aber wenn dann jemand vor einem sitzt, der sagt: Es ist extrem wichtig, dass die Leute euer Produkt ausprobieren können, ist das natürlich sehr wertvoll und wichtig. Da hatten wir überhaupt nicht drüber nachgedacht. Jetzt kann jeder Kunde 30 Tage VITAS kostenlos testen.

Die Idee zu VITAS stammt von …

Die Idee stammt von meinen beiden Mitgründern Thomas Abend und René Straub. Beide haben Informatik studiert und waren im Bereich Deep Learning und Machine Learning unterwegs. Sie hatten einfach Lust auf eine Herausforderung in diesem Bereich. Dass es dann letztlich ein Telefonassistent wurde, war tatsächlich Ergebnis einer Marktanalyse zum Thema: Wo wird sich der Markt hin entwickeln und wie kann man mit Machine Learning extrem viel bewegen, was in der Zukunft spannend und relevant ist. Auf dem Weg zu ihrem ersten Prototypen haben wir uns bei einer Veranstaltung in Nürnberg kennengelernt. Einen BWLer konnten die beiden noch gut gebrauchen. Mittlerweile sind wir 18 Leute im Team.