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Ein Rauchmelder schlägt Alarm, wenn’s brennt. Ein defekter Rauchmelder heult schon auch mal los, wenn man nur ein Streichholz anzündet. So beschreibt Marius Krämer das, was im Kopf von Menschen passiert, wenn sie eine Migräne-Attacke haben. Beim Rauchmelder genügt ein Batteriewechsel. Migränegeplagte liegen oft bis zu 72 Stunden flach. „Das Ganze beruht auf einer Fehlermeldung. Doch die kann man ganz einfach beheben“ sagen die Gründer von heyvie und liefern erstaunliche Ergebnisse.

Ariane Lindemann im Gespräch mit Marius Krämer und Hady Daboul.

Hady ist Arzt und Hirnforscher. Seit 2015 Jahren hilft er mit neurozentrischem Training Menschen zu einem schmerzfreien und selbstbestimmten Leben. Marius hat in den letzten Jahren verschiedene Startups und digitale Produkte aufgebaut.

Migräne ist kein Spaß. Rund acht Millionen Deutsche leiden unter regelmäßigen Attacken. Ihr sagt, es liegt an einer Fehlermeldung im Gehirn. Fehlercode auslesen und reparieren? Das wär’s!

Im übertragenen Sinne ist es genau das, was wir machen.

Nur, dass der Mensch kein Computer ist …

Viele Arten von Schmerzen, dazu zählt auch die Migräne, basieren auf Überreaktionen des Gehirns, das eine Situation, salopp gesagt, nicht mehr richtig einschätzen kann. Stell dir das so vor: Aus irgendeinem Grund, zum Beispiel Stress, herrscht Chaos in deinem Kopf. Kommt jetzt ein weiterer Stressfaktor hinzu, hat das eine Überreaktion im Gehirn zur Folge. Sind unsere Kompensationsmechanismen ausgereizt, kommt es oft zu einer Attacke. Bestimmte Areale des Gehirns werden dann überbeansprucht und sind damit in ihrer Funktion eingeschränkt. Das Gehirn will in diesem Moment nichts anderes als Zeit, um diesen Overflow abarbeiten zu können. Es zwingt dich zur Ruhe, deshalb musst du dich hinlegen.

Und wo genau läuft jetzt was schief bei denen, die Migräne kriegen?

Wir vergleichen das gerne mit einem Rauchmelder. Der Rauchmelder erzeugt einen Alarm, wenn es qualmt – als Warnzeichen. Das Gehirn erzeugt auch ein Warnzeichen: den Schmerz. Wenn der Rauchmelder losgeht, wenn du beim Kochen bist oder ein Streichholz anzündest, ist er fehlerhaft. Genauso ist es beim Gehirn. Das Gehirn ist bei einer Überbeanspruchung nicht mehr in der Lage, zu unterschieden, ob es jetzt wirklich ein Feuer ist oder nur ein Streichholz.

Und ihr scheint jetzt den Entschlüsselungscode geknackt zu haben ….

Die Lösung ist, dass das Gehirn wieder erkennt, wann wirklich Gefahr besteht und ob es sich überhaupt lohnt, daraus einen Schmerz, bzw. eine Migräne zu machen. Dazu muss wieder Aktivität in das überbeanspruchte oder inaktive Areal gebracht und die Grundfunktionalität wiederhergestellt werden.

Das klingt noch ein wenig abstrakt. Kannst du es noch bildhafter erklären?

Gerne. Das Gehirn funktioniert nach dem Prinzip use it or lose it! Das heißt: Wenn du bestimmte Regionen im Gehirn nicht nutzt, sind diese weniger aktiv. Würde man nur seine rechte Hand benutzen, hätte man auf der rechten Seite des Gehirns weniger Aktivität. Unsere rechten Hirnhälfte ist für Bewegung der linken Seite und umgekehrt zuständig. So ist es auch bei der Migräne. Bestimmte Areale sind inaktiv und wir bringen wieder so viel Aktivität rein, dass das Gehirn lernt, dieses Areal wieder zu benutzen. Das heißt, wenn diese „verkümmerten“ Hirnareale aufgearbeitet werden, wird keine Überreaktion mehr produziert, weil das Gehirn in der Lage ist, Stressfaktoren zu kompensieren.

Was muss ich also tun, damit mein Rauchmelder im Kopf nicht mehr unkontrolliert anspringt?

Wir lösen das mit neurozentrischem Training. Das sind Übungen für dein Gehirn, die diese Muster durchbrechen. Kompensationen werden gelöst und die Notwendigkeit für Attacken wird reduziert. Durch das Training überprüfen wir, welche Reize für dein Gehirn die richtigen sind und geben dir in Form von Bewegungen so dein individuelles neurozentrisches Training.

Wie überprüft ihr, welche Reize für mein Gehirn die richtigen sind?

Wir schauen uns Bewegungen an, zum Beispiel, in welche Richtung deine Zunge zeigt, wenn du sie rausstreckst, auf welcher Gesichtshälfte du mehr Empfindungen hast oder auch in welche Richtung dein Kinn zeigt, wenn du den Mund öffnest.

Mal angenommen, meine Zunge geht mehr nach rechts. Was dann?

Dann ist die rechte Gehirnhälfte beeinträchtigt. Diese Bewegungen sind ein Indiz für die Funktion des Hirnstamms, bzw. des Hypoglossus-Nervs. Wir wissen, dass eine Seite des Hirnstammes während einer Attacke überaktiv ist. Durch Funktionstests einzelner Hirnnerven können wir Rückschlüsse auf die Seite ziehen. So wissen wir, welche Seite wir erst einmal aufbauen, beziehungsweise stabilisieren müssen. Diese Erkenntnis machen wir uns zunutze und können Rückschlüsse ziehen, welche Seite im Gehirn jeweils beeinträchtigt ist.

Ok, jetzt wissen wir, welche Seite einen Knacks hat. Und nun?

Wir geben dir nur für diese Seite dann eine bestimmte Übung, zum Beispiel eine Kiefer-Zungen-Bewegung oder eine Atemübung, um das System auf dieser Seite wieder aufzuarbeiten.

Das Ganze läuft über eine App. Einen Physiotherapeuten brauche ich dafür nicht?

Ja, über die App werden Bewegungstests gemacht. Auf Basis dieser Tests wird im Hintergrund ein individuelles Profil errechnet und daraus werden Übungen generiert. Dadurch, dass wir viele Fragen stellen und der Test sehr umfangreich ist, kann man sicher sein, dass die Übungen dann auch wirklich relevant sind.

Ihr habt bereits tolles Feedback von den Usern erhalten …

Ja, das Feedback ist durchweg erstaunlich. Leute, die die Übungen dreimal am Tag jeweils drei Minuten machen, berichten von einer Attackenreduzierung, bzw. von einer Reduzierung der Intensität oder Medikamenteneinnahme um bis zu 50 Prozent. Das heißt 50 Prozent mehr Lebensqualität.

Ist da noch Luft nach oben, wenn man zum Beispiel langfristig trainiert?

Ganz sicher. Je kontinuierlicher man trainiert, desto besser sind die Erfolge. Unser Ziel ist ja zunächst mal, die Anfälle, die Intensität und die Medikamenteneinnahme drastisch zu reduzieren. Wir hoffen, dass der eine oder andere damit seine Migräne sogar ganz los wird. Wir halten das für durchaus realistisch.

Solche Ideen entstehen ja meistens aus eigenem Leidensdruck. Wie war das bei euch?

Hady hat Medizin studiert und arbeitet schon seit acht Jahren mit neurozentrischem Training – seit er nach einer Schulter- beziehungsweise Bizepssehnenverletzung durch neurozentrisches Training nach einer Stunde schmerzbefreit war. Er ließ sich in Kopenhagen und Malmö auf diesem Bereich ausbilden. Wir kennen uns seit 25 Jahren und im Laufe der Zeit hat Hady unseren ganzen Bekanntenkreis mit dem Training begeistert und tolle Erfolge erzielt. Ich war bis vor drei Jahren im Fintech-Bereich tätig. Ende 2020 hingen wir beide fest, weil sich durch Corona in der Forschung gerade nichts tat und ich keine Lust mehr auf Finanzen hatte. So fing alles an. Wir wollten das neurozentrische Training in die Welt tragen.

Gab es Gegenwind?

Jede Menge. Vor allem aus der Szene der neurozentrischen Trainer kamen Einwände: Das geht nicht zu digitalisieren, das ist zu kompliziert, weil man diese ganzen Hirntests machen muss, das kriegt ihr nicht hin. Wir konnten jedoch beweisen, dass es geht, dass auch Leute mit einem digitalen Produkt ihre Kopfschmerzen reduzieren können. Wir haben dann eine mobile App entwickelt, die seit Mitte März online ist.

Was kostet heyvie?

Das 3-Monats-Programm kostet 250 Euro. Darin inbegriffen ist eine enge persönliche Betreuung durch uns. Außerdem bieten wir eine 90-Tage Geld-zurück Garantie.

heyvie – was steckt hinter dem Namen?

Wir hatten uns überlegt: Was ist eigentlich der Grund für unser Tun? Klar, dass deine Schmerzen weg sind, aber gar nicht unbedingt aus Prinzip. Klar ist es schön, wenn du keine Schmerzen mehr hast, aber es ist noch schöner, wenn du in der Zeit, wenn du schmerzfrei bist, was Tolles machen kannst. Also statt die Wochenenden mit Migräne zu verbringen, kannst du tun, was dir Spaß macht. Der Name bedeutet deshalb „Hallo Leben!“ (La vie = frz. Das Leben)

Ihr seid mittlerweile ein Team aus 13 Leuten. Die ersten wichtigen Schritte habt ihr im CyberLab Accelerator Programm gemacht …

Das war für uns eine megawichtige Zeit. Das Netzwerk und die Mentoren, die uns bis heute, ein Jahr danach, noch bei vielen wichtigen Themen unterstützen, hat uns unheimlich weitergebracht.

 

Bildnachweis: imixetto