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Was hat Künstliche Intelligenz mit der Dampfmaschine zu tun? Gehört automatisiertes Möbelrücken bald zum Alltag und kommen Fitnessstudios in Zukunft zu uns statt wir zu ihnen? Carsten Kraus über die Möglichkeiten von KI und warum wir vor ihr keine Angst haben sollten.

KI gilt als die große Revolution unseres Jahrhunderts. Wird die Welt sich jetzt rasant verändern?

Wir sind momentan in Deutschland auf einem Stand wie damals, als der Deutz-Motor von Nikolaus Otto erfunden wurde. Das war eine kleinere Dampfmaschine, allerdings mit einem höheren Wirkungsgrad. Aber wenn man etwas kleiner, leichter und effizienter baut, ist das zwar ein evolutionärer Fortschritt, aber noch keine Disruption. Die Revolution kam dann erst mit den Anwendungen in der Folgezeit. Diese waren genau deshalb möglich, weil es leichter und kleiner war. Ähnlich ist das mit der KI. Wir haben eine bahnbrechende Technologie und erste Applikationen auf dem Markt, die auch schon einen großen Nutzen haben. Aber die große Revolution, die steht noch bevor.

Wird KI über kurz oder lang omnipräsent sein?

Mit Sicherheit. KI wird in allen Dingen sein. Sobald sie billig und klein genug ist – und datenschutzrechtlich abgesegnet.

Aber das autonome Fahren ist ja jetzt schon ein ganz großes Ding …

Schon, aber unter autonomer Mobilität stellen wir uns bislang nur vor, dass wir weiterhin im Auto sitzen und nicht mehr selbst fahren müssen. Aber wenn eine KI in der Lage ist, ein Ziel zu verfolgen, die Umgebung wahrzunehmen, Hindernissen auszuweichen und ein Ziel entsprechend umzuplanen, warum müssen wir uns dann noch bewegen?

Worauf wollen Sie hinaus?

Weitergedacht: Warum kann die KI nicht die Dinge bewegen? Warum setzen wir uns beispielsweise ins Auto und fahren ins fünf Kilometer entfernte Fitnessstudio? Warum kommt das Laufband oder der Crosstrainer nicht zu mir nach Hause?

„Warum setzen wir uns beispielsweise ins Auto und fahren ins fünf Kilometer entfernte Fitnessstudio? Warum kommt das Laufband oder der Crosstrainer nicht zu mir nach Hause?“

Aber da ist es doch wirklich einfacher, wenn ich mich bewege und das nächste Fitnessstudio aufsuche, als wenn man ganze Maschinen durch die Gegend manövriert, oder?

Naja, nicht wirklich. Denn wir bewegen uns mit einem zwei Tonnen schweren Auto fünf Kilometer durch die Gegend. Wenn stattdessen ein 100 Kilo schweres Laufband zu mir kommt und anschließend zum Nachbar rollt, ist die CO2-Belastung deutlich niedriger.

Science Fiction …

Klingt nach Science Fiction, aber das alles ist keine Utopie mehr, sondern schon wirklich sehr nah.

Warum macht man das dann noch nicht?

Der Rechenaufwand ist momentan noch zu groß. Damit wäre zum Beispiel ein Laufband fünf Mal so teuer.

Was könnte man noch alles animieren?

Die autonome Mobilität könnte zum Beispiel im Wohnumfeld eine Rolle spielen. Dass man je nach den momentanen Bedürfnissen Tische und Stühle bewegen kann oder das Sofa. Indem Möbel, die gerade nicht gebraucht werden, sozusagen aus dem Weg gehen und wenn ich sie brauche, wieder an Ort und Stelle kommen, könnte man in kleineren Wohnungen Platz sparen. Wenn ich zum Beispiel auf der Couch sitzen möchte, bewegt sich der Tisch ins Schlafzimmer, zum Essen kommt er wieder und die Couch weicht an einen anderen Ort aus.

„Wenn ich zum Beispiel auf der Couch sitzen möchte, bewegt sich der Tisch ins Schlafzimmer, zum Essen kommt er wieder und die Couch weicht an einen anderen Ort aus.“

Assistenzroboter sind auch so ein spannendes KI-Thema, das immer mehr Gestalt annimmt.

In der Tat, ein großes Thema. Es gibt bereits die ersten Küchen, die mit Roboterhänden ausgestattet sind, die beim Kochen helfen. Man muss ihnen nur die Zutaten hinstellen und dann kochen sie einem das Lieblingsgericht genau so, wie man es selbst kochen würde. Es ist alles schon möglich. Nur Vieles ist einfach noch zu teuer.

Haben kleinere Firmen oder Produktionsfirmen Angst vor KI?

Leider ja. Sie haben Angst davor, mit der KI nicht gut genug umgehen zu können, ihre Kunden zu enttäuschen oder Geld zu versenken. Die Angst bei letzterem ist nicht gänzlich unbegründet, allerdings sind die Chancen viel größer als die Risiken. Diese Angst muss daher überwunden werden, wenn man wettbewerbsfähig bleiben will. Manche haben auch Angst, dass ihre Ingenieurskunst irgendwann durch KI ersetzt wird. Das ist eine Angst, die ich klar teile, wenn wir uns nicht anstrengen.

Weil sie berechtigt ist?

Ja, denn momentan haben die kleineren deutschen Firmen im Schnitt eine Handvoll Ingenieure, die etwas erfinden. Darauf haben sie ein Patent, das aber nur 20 Jahre gültig ist. Sie sind also immer wieder gezwungen, neue Erfindungen nachzulegen. Das können sie auch, denn Deutschland ist allen anderen Nationen mit seinem Erfindungsgeist im Ingenieursbereich weit voraus. Aber es kann gut sein, dass selbst dieser in absehbarer Zeit nicht mehr ausreicht, um den Abstand zu schaffen und dass dann der schlechtere Ingenieur mit der besseren KI gewinnt.

„Es kann gut sein, dass selbst dieser in absehbarer Zeit nicht mehr ausreicht, um den Abstand zu schaffen und dass dann der schlechtere Ingenieur mit der besseren KI gewinnt.“

Hinkt Europa in Sachen KI hinterher?

Sagen wir mal so: Derzeit könnten wir noch aufholen, wenn wir dieses Thema jetzt ernsthaft angehen. Für die europäische und für die deutsche Industrie ist der Anschluss an die KI der einzige Weg in eine überlebensfähige Zukunft. Firmen, die KI nicht nutzen, werden ganz sicher über kurz oder lang abgehängt.

Muss die Politik besser aufklären und mehr fördern?

Sie versucht es ja bereits, aber meines Erachtens an der falschen Stelle. Der Staat investiert viel Geld in die Hochschulen, aber das führt einerseits dazu, dass damit gute Leute in der Wirtschaft fehlen. KI-Experten sind ja leider Mangelware. Zum anderen – und darin sehe ich ein großes Problem – werden alle herausragenden Forschungen, die an Hochschulen gemacht werden, veröffentlicht. Während andere Nationen in geheimen Laboren forschen, stellen wir unser Wissen der ganzen Welt zur Verfügung. Ich finde, Europa muss sich wieder eigene Vorteile verschaffen und sichern.
Ein weiteres Manko ist, dass Europa im Gegensatz zu den USA und China keine Large Language Models hat, die ein wesentlicher Pfeiler der KI-Zukunft sind, bei der mittels Deep-Learning Texte erstellt, zusammengefasst, übersetzt oder vereinfacht werden.

Carsten Kraus
beschäftigte sich früh mit Algorithmen und Künstlicher Intelligenz. Bereits während der Schulzeit gründete er seine erste Firma, trat vor dem Abitur aus der Schule aus und vermarktete das erste größere Produkt, eine Programmiersprachenerweiterung für den Commodore 64. Kurz nach dem nachgeholten Abi folgte eine komplett neue Architektur für Programmiersprachen-Interpreter, gemeinsam mit Dr. Thomas Kemp und Artur Södler entstand daraus Omikron-Basic für den Atari ST. Dieses war etwa 70-mal schneller als die von Atari selbst entwickelte Programmiersprache: 1988 verkaufte er die Lösung an Atari, und Atari lieferte sie mit allen Computern in Europa aus.
Es folgten weitere Firmengründungen, Beteiligungen, zahlreiche Innovationen und Patent-Anmeldungen zu KI-Verfahren, mit denen Carsten Kraus Sprunginnovationen zum Erfolg führte. FACT-Finder – ehemals ein Unternehmensbereich seiner Firma Omikron, heute eine eigenständige Firma, an der Carsten Kraus weiterhin Anteile hält – gilt als Europas führende Suchtechnologie innerhalb großer Online-Shops. Weiter im Portfolio der CK Holding GmbH befindet sich, neben weiteren Unternehmen, das KI-Start-up Casablanca.ai, das daran arbeitet, die Welt der Videokonferenzen zu revolutionieren.
Als KI-Experte setzt er sich vor allem dafür ein, dass Europa in Sachen Künstlicher Intelligenz nicht abgehängt wird. Zudem ist er davon überzeugt, dass neue Technologien Wert für Unternehmen und Menschen zugleich stiften.
Carsten Kraus investiert als Business Angel auch in fremde Start-ups. Er begeistert sich für technologische Innovationen. Als Seriengründer kann er vor allem in der Pre-Seed / Seed-Phase viel Nutzen als Sparringspartner und Mentor einbringen.