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Die Reaktionen von Kindern, wenn sie auf Gegenstände aus vergangenen Zeiten stoßen, können uns faszinieren. Eine VHS-Kassette? Ein Wählscheibentelefon? Dass sich so Filme abspielen oder Telefongespräche führen ließen, ist für die junge Generation kaum vorstellbar. Ist es da nicht seltsam, dass es sich beim Auto ganz anders verhält? Obwohl Fahrzeuge schneller, effizienter und sicherer geworden sind, haben sich Form und Funktion in den letzten 100 Jahren kaum verändert.

Auch weiterhin werden Autos äußerlich als solche erkennbar bleiben. Ihr Hauptzweck – Menschen zuverlässig und komfortabel von A nach B zu transportieren – bleibt bestehen. Doch im Inneren hat die Revolution bereits begonnen. Autos der Zukunft sind elektrisch, bieten ein digitales Erlebnis mit maximaler Konnektivität und sind Teil eines größeren Mobilitätsnetzwerks. Konstruiert um eine neue Generation leistungsstarker Automobilprozessoren wandeln sich moderne Fahrzeuge zu rollenden Computern. Für die Automobilbranche stellt das eine enorme Veränderung dar – und eine große Herausforderung.

Wie der Chip ins Auto kam

Halbleitertechnologie in Autos gibt es schon seit den späten 1960er Jahren. Damals bauten Hersteller erstmals Computerchips in Fahrzeuge ein, um die Kraftstoffeinspritzung zu überwachen, zu steuern und effizienter zu machen. Ein bedeutender Meilenstein erfolgte 1976 mit dem ersten Motorsteuergerät (Electronic Control Unit, ECU).

In den folgenden Jahrzehnten kamen immer mehr Anwendungen für Chips dazu: von Airbags und Scheibenwischern über ABS und Traktionskontrolle bis hin zu modernen Fahrassistenz- und Navigationssystemen. Die eingebetteten Chips führen in der Regel nur eine einzige Funktion aus. Und so bringt jede neue Anwendung auch einen neuen Mikrocontroller mit sich. Viele Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor haben heute mehr als 100 eingebettete ECUs, ohne Wechselwirkung zwischen den einzelnen Chips.

Erst jetzt, mit dem Wandel hin zur Elektromobilität, setzt ein Umdenken ein. Die Anforderungen an die Hard- und Software steigen kontinuierlich. Auf dem Weg zum Auto der Zukunft reicht es deshalb nicht aus, immer mehr und immer leistungsstärkere Prozessoren hinzuzufügen. Die historische Architektur des Autos ist an ihre Grenzen gestoßen.

Halbleiter im Mittelpunkt

Die Lösung des Problems verlangt eine Neugestaltung von Grund auf. Fahrzeuge müssen sich verändern: von einem mechanischen Aufbau mit verteilten Rechensystemen hin zu einer Plattform, die um einen leistungsstarken Computer herum gebaut ist. Mechanische Aspekte spielen nur noch eine untergeordnete Rolle.

Die traditionelle Bauweise weicht einer Architektur, die flexibel, konsolidiert, vernetzt und softwaredefiniert ist. Statt wie bislang mit rund 100 ECUs kommen diese softwaredefinierten Fahrzeuge (Software Defined Vehicles / SDV) mit der Hälfte aus. Verbunden werden die ECUs – anstelle von schweren und teuren Kupferkabeln – mit Glasfaser.

Das moderne Fahrzeug wird auf leistungsstarken Halbleitern basieren, mit einem zentralen System-on-a-Chip als Herzstück. Dabei handelt es sich um ein integriertes Bauteil, das alle wichtigen elektronischen Komponenten auf einem einzigen Chip vereint. Es wird flexibel statt zweckgebunden sein, sodass es verschiedene – und jederzeit auch neue – Funktionen übernehmen kann. Die zentrale Recheneinheit wird zudem künstliche Intelligenz (KI) integriert haben. Das schafft die Basis für smarte Features, etwa im Bereich Energiemanagement zur Optimierung des Stromverbrauchs und der Systemleistung.

Software-Updates sind die neuen Ölwechsel

Die wichtigsten Komponenten eines Autos sind dann nicht länger Motor und Getriebe. Statt PS und Spritverbrauch werden Rechenleistung und Energieeffizienz zu maßgeblichen Leistungsfaktoren. Mit Chips und Software können sich Automobilhersteller von ihren Mitbewerbern abheben.

Für SDVs sind Aktualisierungen der Software genauso wichtig wie Ölwechsel für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Der entscheidende Unterschied: Die Updates können automatisch und von überall aus – Over-the-Air – durchgeführt werden.

Handys, Fernseher und sogar Haushaltsgeräte haben in den letzten 20 Jahren ähnliche technologische Sprünge gemacht und wurden zu eigenen vernetzten Softwareplattformen. Beim Auto steht diese Entwicklung kurz bevor.

Steigender Bedarf, neue Herausforderungen

Aktuell besteht die durchschnittliche Stückliste eines Fahrzeugs mit Verbrennungsmotor zu einem Großteil aus mechanischen Bestandteilen. Nur rund 16 Prozent sind Elektronikkomponenten. Experten prognostizieren, dass sich dieser Anteil in Fahrzeugen bereits bis 2025 mehr als verdoppeln wird.

Der Bedarf an Halbleitern steigt dementsprechend stark an. Umso schmerzhafter waren für die Automobilbranche die globalen, pandemiebedingten Lieferengpässe der vergangenen Jahre. Die Verzögerungen führten teilweise dazu, dass 100.000-US-Dollar-Fahrzeuge nicht fertiggestellt wurden, weil ein 1,50-US-Dollar-Mikrocontroller fehlte.

Auf dem Weg zu einer ausgewogenen Lieferkette

Um die steigende Nachfrage zu erfüllen und eine widerstandsfähige und krisensichere Lieferkette aufzubauen, investieren Halbleiterunternehmen massiv in neue Fertigungseinrichtungen. Besonders profitieren Automobilhersteller und Zulieferer von Chip-Herstellern, die auch als Auftragsfertiger auftreten können. Das erlaubt die Integration von Chiplets (Modulbausteine) aus verschiedenen Halbleiterfabriken in einen einzigen bedarfsorientierten Prozessor. Zum Beispiel individuell angepasst auf die Anforderungen an Fahrerassistenzsystem, Infotainment oder Konnektivität.

Diese Flexibilität gibt Automobilherstellern mehr Gestaltungsspielräume. Sie können Fahrzeuge bauen, die auf spezifische Kundenbedürfnisse und Effizienzanforderungen zugeschnitten sind. Dies eröffnet vollkommen neue Dimensionen für eine verbesserte Elektromobilität und die Weiterentwicklung autonomer und vernetzter Fahrzeuge.   Profitieren wird davon die gesamte Automobilbranche – die so zum Wegbereiter einer nachhaltigen, sicheren und intelligenten Zukunft der Mobilität wird.

TitelbildIntel
Jack Weast
Jack Weast ist Vice President und General Manager von Intel Automotive sowie Chief Technology Officer (CTO) des Corporate Strategy Office. In seiner Rolle erforscht und bewertet er neue technologische Strategien, um ihre Auswirkungen auf Intel zu verstehen und wie sie dazu beitragen können, die Geschäftsziele zu erreichen. Außerdem leitet er ein globales Team, das innovative Automotive-Produkte für Fahrzeuge auf der ganzen Welt entwickelt. In seiner über 20-jährigen Karriere bei Intel hat sich Jack Weast einen Namen als Vorreiter in neuen Geschäftsbereichen gemacht. Er hat maßgeblich zu branchenführenden Produkten und Standards beigetragen, die sich mit High-Performance-Computing und komplexen, heterogenen Architekturen befassen. Mit seiner ganzheitlichen Herangehensweise vereint Jack Weast fundierte Produktkenntnisse mit einem Gespür für elegantes System- und Softwaredesign. Jack Weast ist Co-Autor des Buches "UPnP: Design By Example". Er besitzt über 40 erteilte Patente und viele weitere sind bereits angemeldet. Kürzlich wurde er in die Maseeh College Academy of Distinguished Alumni der Portland State University aufgenommen. Dies würdigt seine herausragenden Leistungen, Führungsqualitäten und Verdienste in den Bereichen Ingenieurwesen und Informatik sowie in der gesamten Gesellschaft. In seiner Freizeit ist Jack Weast klassischer Pianist.