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Trotz Fortschritten im Bildungswesen folgen Lehrpläne und -methoden heute immer noch klassischen Strukturen. Diese sind jedoch nicht auf Vielfalt ausgelegt: Für neuroatypische Lernende besteht das Risiko, ungewollt vom Unterricht ausgeschlossen zu werden. Daher ist es Zeit, inklusive Lernumgebungen zu schaffen – zum Beispiel mithilfe von EdTech Tools. Doch das setzt einiges an Vorarbeit voraus.

Neurodiversität ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft. In Deutschland weist etwa jede fünfte Person eine Form von Neurodivergenz auf – darunter Autismus, ADHS, Legasthenie und Hochbegabung. Da sie ihre Umwelt anders wahrnehmen, verarbeiten neuroatypische Personen Inhalte, Informationen und Wissen anders als ihre neurotypischen Mitmenschen. Damit sind oft auch individuelle, von der Norm abweichende Reaktionen auf verschiedene Reize verbunden. Neurodivergenz kann die Aufmerksamkeit, Kommunikation und Artikulation sowie das allgemeine Lernverhalten einzelner beeinflussen.

In Lehrräumen wie Schulen oder Universitäten treffen von Natur aus neurodiverse Lerngruppen aufeinander. Um allen die gleichen Chancen zu bieten, müssen diese Einrichtungen die Gruppenvielfalt in ihren Lehrmethoden und -mitteln berücksichtigen. Der Bildungsbereich kämpft jedoch noch immer mit veralteten Strukturen, die wenig Raum für Flexibilität bieten.

Tradition vs. Inklusion

Von Lernenden wird heutzutage noch immer erwartet, dass sie sich an den Unterricht, der sich gleichermaßen an alle richtet, anpassen – nicht umgekehrt. Bildungseinrichtungen verlangen, dass alle auf die gleiche Weise mit Wissen und Lernmethoden arbeiten. Das kann neuroatypischen Schüler:innen und Student:innen allerdings den Zugang zum Lernen und zu Wissen verschließen.

Digitale Tools wie Lern-Apps und andere EdTech-Lösungen bieten einen Weg aus diesem Teufelskreis. Ausgestattet mit inklusiven Funktionen und Formaten können sie eine flexible Lernerfahrung schaffen, in der sich alle Lernenden wohl und einbezogen fühlen. Auch wenn sich diese Tools im Laufe der letzten Jahre jedoch als sehr effektiv erwiesen haben, steckt der EdTech-Bereich noch immer in der Vergangenheit fest. Denn die zahlreichen bewährten Lösungen bauen auf veralteten Unterrichtsmethoden auf und sind somit nicht auf eine neurodiverse Lerngemeinschaft ausgelegt. Denn wahre Inklusivität erfordert weit mehr als ein barrierefreies User Interface oder dyslexiefreundliche Schriften.

Repräsentation: Ein entscheidender Faktor

Unabhängig davon, wie talentiert oder empathisch Entwickler:innen sind: Wenn ihnen das notwendige Wissen sowie die Erfahrungen im Bereich Neurodiversität und inklusives Lernen fehlen, wird das EdTech-Projekt zwangsläufig scheitern. Ein Produkt, das lediglich auf vagen Ideen von der Materie aufbaut, bringt niemandem etwas. Für eine wirklich inklusive Lernerfahrung ist es unerlässlich, sich die Insights aus der Zielgruppe selbst zu beschaffen. Vielleicht gibt es bereits intern Kolleg:innen, die aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz schöpfen und ihre Insights mit den Design- und Entwicklerteams teilen können?

Ist dies nicht der Fall, bietet es sich an, neuroatypische Personen von außen als Expert:innen heranzuziehen. Im Sinne eines Co-Design-Ansatzes beraten sie das Team und stärken auf diesem Wege die Stimmen der in dieser Branche unterrepräsentierten Gruppe. Daneben besteht die Möglichkeit einer spezialisierten Task Force. Deren Hauptaufgabe ist es, sich eingehend mit dem Thema Neurodiversität auseinanderzusetzen, eine Wissensgrundlage aufzubauen und inklusive Design-Methoden zu ergründen – zum Beispiel über Interviews mit und Erfahrungsberichten von neuroatypischen Personen. All diese Praktiken haben einen gemeinsamen Nenner: diverse Perspektiven einbringen, Repräsentation Raum geben und Bewusstsein schaffen.

Inclusion-by-Design und Inclusion Frameworks

Inklusive Funktionen finden nicht zufällig ihren Weg in eine Anwendung. Entwickler:innen müssen schon in der frühen Konzeptionsphase einen Inclusion-by-Design-Ansatz verfolgen und diesem auch bis zum Launch – und darüber hinaus – treu bleiben. Dafür müssen sie ihren eigenen Bias kritisch hinterfragen und inklusive Prozesse und Methoden etablieren. Denn Inklusion kann nicht auf Vermutungen und einseitigen Perspektiven beruhen.

Zudem fördern inklusive Design-Frameworks wie die Universal Design for Learning (UDL) Guidelines mittels verschiedener Design-Prinzipien den richtigen Aufbau einer inklusiven Lernerfahrung. Diese Richtlinien unterstreichen, dass Nutzer:innen von EdTech-Lösungen in der Lage sein sollen, selbstbestimmt zu entscheiden, auf welche Art und Weise sie mit Lerninhalten interagieren und ihr Wissen zum Ausdruck bringen möchten. Folglich braucht es die entsprechenden Funktionen und Formate. So können Schüler:innen zu Beispiel über eine Mal- oder Speech-to-Text-Funktion am Unterricht teilnehmen. Dies fördert nicht nur die Wissensaufnahme, sondern auch das Zugehörigkeitsgefühl.

Damit ein Design-Framework auch funktioniert, gilt es, die passenden Design-Prinzipien klar zu definieren und mit dem gesamten Team zu kommunizieren. Dadurch wird sichergestellt, dass alle beteiligten Person auf einer Wellenlänge sind und dasselbe Ziel verfolgen. In regelmäßigen Self-Checks sollten sie prüfen, dass sämtliche Entscheidungen den definierten Prinzipien entsprechen.

Inklusives Design: Mehr als nur Theorie

In der Software-Entwicklung ist Rapid Prototyping ein bewährtes Ideation- und Testverfahren. In kurzer Zeit lassen sich kosteneffizient neue Konzepte erstellen, umsetzen und erste Prototypen frühzeitig testen. Auf diese Weise ist für Design- und Entwicklerteams schnell ersichtlich, bei welchen Ideen es sich lohnt, sie auszuarbeiten. Das allein garantiert jedoch noch nicht, dass es sich um inklusive Features handelt. Idealerweise überlassen Entwickler:innen das Playtesting von Prototypen der eigentlichen Zielgruppe: neuroatypischen Lernenden. Dadurch verhindern sie, dass der Bias interner Tester das Endprodukt beeinflusst. Neuroatypische Tester können wesentlich besser einschätzen, ob sich das Produkt in die richtige Richtung bewegt, und Verbesserungen empfehlen.

Die Liste der nicht-inklusiven Funktionen ist nämlich lang und das Risiko, ins Fettnäpfchen zu treten, groß. Die folgenden drei Beispiele verdeutlichen, welche Mechaniken, die auf den ersten Blick unproblematisch wirken, eine inklusive Lernerfahrung einschränken können:

Für das klassische Frage-Antwort-Spiel wählen Entwickler:innen in der Regel als erstes das Textfeld, in das Lernende ihre Antworten eintippen. Inklusives Design geht jedoch weit über das Schreiben hinaus. Unter den Lernenden könnten sich auch Schüler:innen oder Student:innen befinden, denen es leichter fällt, sich mithilfe von Zeichnungen oder Sprachaufnahmen auszudrücken. Diese Möglichkeit sollten Design- und Entwicklerteams berücksichtigen und entsprechende Funktionen einbauen.

Der kompetitive Zweck hinter einem Zeitlimit ist klar: Die schnellsten Problemlösenden und Antwortenden gewinnen. Jedoch können sich neuroatypische Lernende davon enorm unter Druck gesetzt fühlen, was womöglich ihre Aufmerksamkeit und Konzentration schwächt. Hier können Entwickler:innen alternativ nach einer inklusiveren Funktion, die den kompetitiven Aspekt fördert, oder Timer an die Bedürfnisse neurodiverser Nutzer:innen anpassen.

Ein User Interface mit vielen Elementen dient in erster Linie dazu, Nutzer:innen mit genügend Informationen und Interaktionsmöglichkeiten zu versorgen. Bei neuroatypischen Schüler:innen und Student:innen, die empfindlich auf überladene visuelle Stimuli reagieren, kann das jedoch das Gegenteil bewirken. Gleiches gilt für andere Sinnesreize wie blinkende Lichter oder laute Geräusche. Die Folgen: Konzentrationsstörungen, Stress oder sogar Angst. Optionen, mit denen neuroatypische Lernende solche Einflüsse kontrollieren können, sind daher die ideale Lösung.

Möglichkeiten für inklusive Lernerfahrungen schaffen

Wer EdTech-Lösungen entwickeln möchte, darf sich nicht nur auf die reine Wissensvermittlung versteifen. Design- und Entwicklerteams, die sich nicht fragen, für wen ihr Tool und dessen Funktionen geeignet ist, laufen Gefahr, einen beträchtlichen Teil der lernwilligen Bevölkerung auszuschließen – wenn auch ungewollt. Deshalb sollten sie eine Lernumgebung priorisieren, in der alle barrierefrei auf Wissensinhalte zugreifen können. Dafür stehen neben modernen Technologien auch inklusive Design-Frameworks und -Prinzipien zur Verfügung, die die Entwicklung einer inklusiven Lernlösung unterstützen. Außerdem müssen auch das Wissen und Erfahrungen von Personen berücksichtigt werden, die wichtige Einblicke aus erster Hand liefern können. Denn Repräsentation und Bewusstsein machen eine

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Louisa Rosenheck
Louisa Rosenheck ist Director of Pedagogy bei Kahoot!. Die erfahrende EdTech-Designerin und -Wissenschaftlerin ist dafür verantwortlich, die pädagogischen Ansätze der verschiedenen Kahoot!-Produkte und -Services aufeinander abzustimmen. Zudem ist sie Co-Autorin von „Resonant Games“, einem Buch über Designprinzipien für Lernspiele.