Lesedauer ca. 6 Minuten

Tagtäglich verstopfen sie die Straßen unserer Städte. Es gibt kaum einen Tag, an dem ich nicht genervt reagiere, wenn wieder einmal ein KEP-Dienstleister den Verkehr aufhält; sei es, weil er mitten auf der Straße steht oder direkt den Radweg blockiert. Eine Stadt wie Berlin zählt täglich zirka 2.000 KEP-Fahrzeuge, die den Endkunden beliefern. Bei 251 Arbeitstagen sind das geschätzte 151 Millionen Pakete pro Jahr. In Deutschland sprechen wir mittlerweile von drei Milliarden Sendungen, die jedes Jahr ausgeliefert werden – Tendenz steigend. Nicht zu vergessen die Extrarunden, die ein Paketzusteller dreht, weil der Kunde zu Hause nicht anzutreffen ist. Logistisch und umwelttechnisch betrachtet absoluter Wahnsinn. Die Zukunftsvision RULS könnte Abhilfe schaffen und die urbane Logistik revolutionieren; vorausgesetzt alle machen mit.

Am TUP-Kundentag ließ Mathias Thomas, Geschäftsführer von Dr. Thomas + Partner (TUP) und, Anmerkung sowie journalistische Sorgfaltspflicht des Autors, mein Chef, erstmals die Katze aus dem Sack. RULS, Akronym für Realtime Urban Logistics Solution, soll die Logistik innerhalb einer Stadt nicht nur optimieren; Thomas spricht vielmehr vom größten Logistik-Unternehmen weltweit, ohne dabei eigene Lieferfahrzeuge zu unterhalten. Das erinnert ein wenig an UBER und Airbnb; die einen besitzen nicht ein Taxi, die anderen nicht ein Hotel beziehungsweise Zimmer – das RULS-Geschäftsmodell ist ebenfalls die Organisation vorhandener Ressourcen.

UBER, Alibaba, Airbnb und Facebook nutzen im Grund bestehende Infrastrukturen, um ihren Service zu betreiben.

Die cloudbasierte Lösung kann Transportaufträge koordinieren, Wege optimieren und Kunden mit in den Lieferprozess integrieren. Bevor ich allerdings Mathias Thomas seine Zukunftsversionen aufzeige, sollten wir uns noch einmal den eingangs erwähnten Ist-Zustand vornehmen; das Warum hinterfragen.

  • Viele Verkehrsstörungen (Staus) werden durch Kuriere und KEP-Dienstleistern verursacht
  • 40 Prozent der Bevölkerung sind von Lärmbelästigung ab 55 DB betroffen
  • Städte wie Berlin zählen 151 Millionen Pakete/Jahr, die zum Kunden geliefert werden
  • In Kleinstädten, wie Bad Hersfeld oder Darmstadt sind es bereits je 4-5 Millionen/Jahr
  • In Kleinstädten (Darmstadt) und mittelgroßen Städten (Nürnberg, Frankfurt) fahren täglich zwischen 100 und 300 Lieferverkehre pro Tag, in Berlin sind es täglich geschätzt 2.000 Fahrzeuge, die den Endkunden beliefern
  • Die letzte Meile ist dabei ein erheblicher Kostenfaktor (Retouren, Mehrfahrten)
  • Ware liegt in der Regel beim Konsumenten vor Ort (gaxsys)
  • Lokale Infrastrukturen werden gestärkt
  • Wenn jetzt nicht gehandelt wird, ist der urbane Verkehrskollaps innerhalb der nächsten zehn Jahre programmiert

Die Zustellquote erreicht nahezu 100 Prozent, Rücktransporte in das Verteilzentrum und Mehrfachanfahrten entfallen. Innerstädtische Übergabepunkte und Hubs ermöglichen eine reibungslose Kooperation verschiedener kommerzieller und privater Dienstleister.

Mathias Thomas, CEO Dr. Thomas + Partner

RULS

RULS adaptiert 36 Jahre Erfahrung aus der Intralogistik auf urbane Infrastrukturen und ermöglicht laut TUP die effiziente Organisation für das Versenden von Waren in urbanen Gebieten – basierend auf einer IT-Lösung für den effektiven Transport. Grundlage des Systems ist eine Materialflusssteuerung (MFC), welche mehr als 3,2 Millionen Prozesse pro Tag (1,2 Milliarden/Jahr) erfolgreich steuern und ausführen kann.

Wohlgemerkt, wir sprechen von Reaktionszeiten im Millisekunden-Bereich. Die mir bekannten Vorteile aus der Intralogistik: Sicheres und schnelles scannen von Lieferadressen, optimierte Routenplanung und eine dynamische Organisation des eigentlichen Lieferprozesses. Die Vision dahinter ist die Zusammenführung und sinnvolle Verteilung von Aufträgen durch den Einsatz einer dynamischen Routenoptimierung in ‚Echtzeit‘. „Grundlage ist eine Cloud-Lösung, die ein Lieferdienst-übergreifendes Routing von Transporten ermöglicht. Dabei können weitere Aufträge in einen laufenden Lieferprozess eingeschleust, Übergabepunkte für wechselnde Dienstleister definiert und bisher unkonventionelle Fördermittel integriert werden“, so zumindest Mathias Thomas bei seiner Präsentation. „Dem Konsumenten wird automatisiert ein sehr genaues Zeitfenster der Zustellung seiner Lieferung zur Verfügung gestellt und auch eine kurzfristige Beeinflussung des Wunschtermins ermöglicht.“

Öffentliche Nahverkehre, Berufspendler und Taxifahrer können zudem ihre Transportkapazität mit anbieten, um beispielsweise einen Teiltransport zu übernehmen und so einen Teil ihrer Fahrtkosten zu amortisieren. Und geht es nach Thomas, werden die Transportkapazitäten in Zukunft weiter steigern: So plant der Ingenieur schon jetzt mit der Integration neuer Technologien wie Drohnen und Zustellroboter.

RULS - der heutige E-Commerce ist nicht ganz unschuldig am Infarkt der Städte: Die Gesellschaft muss in Zukunft umdenken.

Materialflusssteuerung: optimales Routing und hohe Datendichte

Im Gegensatz zu anderen Visionen, die in der Regel auf standardisierte Routing- und Navigationssysteme setzen, nutzt RULS die von Dr. Thomas + Partner entwickelte Materialflusssteuerung. „Sie trifft auf Basis erfasster Parameter wie etwa Größe und Gewicht des Transportguts, verfügbare Transportmittel und der effizientesten Routen automatisiert eine Entscheidung“, erklärt Thomas.

Steht dem Kurier zum Beispiel ein Rucksack oder etwa eine große Ladefläche zur Verfügung? Wenn ein Rucksack, wieviel Liter fasst dieser? Können gleich mehrere Aufträge an diesen Kurier übergeben werden? Nach erfolgter Auftragseinlastung wird automatisch ein verfügbarer Kurier ausgewählt, unter Berücksichtigung seiner Transportkapazität, der aktuellen GPS-Position und der Auftragsprioritätsliste. „RULS berechnet das optimale Routing von allen Aufträgen eines jeden Kuriers, vergleicht diese miteinander und koordiniert etwaige Routenmodifikationen und eingeschleuste Aufträge anhand der vorher definierten Zonen, Übergabepunkte und Hubs. Wir sprechen hier von unzähligen Informationen und Datensätzen, gerne auch von Big Data, und daraus resultierende Optionen, die ein Mensch in Echtzeit kaum optimal administrieren kann“, ergänzt Thomas während seines Vortrags.

Zudem benötigt man seiner Meinung nach auch „keine unzähligen separaten Softwaremodule (Routing, Navigation, Datenpool). Ab der Bestellung des Endkunden, im Onlineshop, übernimmt die TUP.MFC sämtliche Prozesse“. Erwähnenswert: Mathias will den lokalen Handel mit an RULS partizipieren lassen und ihn vollständig in den Materialfluss integrieren. „Same-Day-Delivery wird endlich bezahlbar“, schließt Mathias Thomas ab.

Aus dem Lager auf die Straßen der Städte - RULS bindet Drohnen, Straßenbahnen, Fahrräder und andere lokale Transportmittel ein.

RULS baut auf eine Art Layer-Architektur auf: Die Materialflusssteuerung nutzt unterschiedliche Stadtnetze und verknüpft so beispielsweise das Bahnnetz mit dem herkömmlichen Straßennetz.

RULS: mein persönliches Fazit

Das stetig wachsende Verkehrsaufkommen ist eine zentrale Herausforderung moderner Großstädte; aber auch kleinen Kommunen – nicht nur in Sachen Smart City. Und nicht zuletzt aufgrund des florierenden E-Commerce verschärft sich speziell in urbanen Ballungsräumen die Verkehrssituation durch Lkw, Kurier- und Lieferdienste immens. Die urbanen Zentren stehen daher vor großen Herausforderungen. Die Bevölkerungszahl steigt durch eine hohe Anziehungskraft der Städte, der Wohnungsbedarf ist hoch und erzwingt eine weitere Verdichtung. Die steigende Inanspruchnahme von Online-Handelsplattformen erzeugt darüber hinaus auch in den Verdichtungsräumen in hohem Maße zusätzliche Transportströme.

Dadurch sind zum einen die Lebensqualität der Anwohner, zum anderen die Mobilität und Wirtschaftlichkeit ganzer Branchen akut in Gefahr. Deshalb müssen jetzt die Weichen gestellt werden, die positive Entwicklung des Marktes nicht zu einem Sprengsatz für Metropolen werden zu lassen. Vielleicht ist ja die Vision von Mathias Thomas ein Ansatz, den urbanen Kollaps zu verhindern und die Lebensqualität in unseren Städten wieder zu verbessern.