Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) galten lange als Gaming-Technologien. Sie dienten der Unterhaltung und hatten keinen wirtschaftlichen Nutzen. Doch diese Zeiten sind vorbei. In Zukunft wird Remote-Arbeit allgegenwärtig sein und Unternehmen müssen somit innovative Möglichkeiten finden, um die Zusammenarbeit zu verbessern. Ein klarer Fall für die Extended Reality (XR) auf Unternehmensebene, die sogenannte Enterprise XR.
Der dringende Bedarf, Remote-Arbeitspraktiken zu erweitern und auszubauen, beschleunigte die Entwicklung XR-fähiger Geräte. Die ehemals unattraktiven, unförmigen und unpraktischen Smartglasses und Head-up-Displays werden von einer neuen Generation eleganter Geräte abgelöst, die große Akzeptanz finden.
Remote-Müdigkeit
COVID-19 hat uns neue Verhaltensformen aufgezwungen. Eine davon ist das Arbeiten im Homeoffice. Wir verbringen Stunden mit Zoom oder anderen Videokonferenzplattformen und tauschen uns kaum noch persönlich mit unseren Kolleg*innen aus.
Meetings, Workshops, Konferenzen, Webinare: Alles läuft auf die gleiche – oft eintönige – Weise ab. Wir „kleben“ den ganzen Tag vor unseren Bildschirmen, in fast immer der gleichen Körperhaltung. Meistens sitzen wir dabei, was zur Folge haben kann, dass langfristig unsere Gesundheit leidet. Der American Psychological Association (APA) zufolge hat isoliertes Online-Arbeiten darüber hinaus auch Auswirkungen auf die Psyche: Seit Beginn der COVID-19-Pandemie treten Apathie, Angstzustände und sogar Depressionen vermehrt auf.
Konkret stellt sich die Frage: Warum sind virtuelle Meetings für uns kräftezehrender als persönliche Begegnungen im Kollegen- oder Kundenkreis? Psychologen betonen, dies liege am Mangel an sozialen und nonverbalen Signalen, die bis zu 80 Prozent der zwischenmenschlichen Kommunikation ausmachen können. In Kombination mit sozialer Isolierung ist es umso wichtiger, sich neben der körperlichen Gesundheit auch der geistigen Gesundheit anzunehmen.
Auch nach dem Ende der Pandemie werden viele Unternehmen Arbeiten aus dem Homeoffice stärker als bisher ermöglichen. Deshalb brauchen wir für die Zukunft neue Möglichkeiten und Methoden, wie wir arbeiten und miteinander interagieren.
XR kann Engagement und Produktivität für Remote-Arbeit steigern
XR bietet die Möglichkeit, unsere Welt von 2D auf 3D auszudehnen und mithilfe von Wearables „reale“ Erlebnisse zu simulieren. Aber lässt sich das Ganze auch sinnvoll und produktiv im Arbeitsumfeld nutzen?
ThoughtWorks hat ein eigenes XR-Inkubationszentrum aufgebaut. Hier lassen sich XR-Experimente durchführen und gemeinsam an agilen Entwicklungspraktiken wie TDD (testgetriebene Entwicklung) und CI/CD (kontinuierliche Integration/kontinuierliche Bereitstellung) für XR arbeiten. Vor Kurzem wurde untersucht, wie sich das Arbeiten im Team in einer virtuellen Umgebung mithilfe von XR verbessern lässt. Eine mobile App, die auf AR basiert, erlaubt es Nutzer*innen, einen multimedialen Raum mit virtuellen Tafeln oder Boards für die Zusammenarbeit zu erstellen. Das Experiment sollte die Hypothese überprüfen, dass XR in der Lage ist, Engagement, Freude, Kreativität und Produktivität beim Remote-Arbeiten zu steigern.
Knapp 60 Versuchspersonen testeten die AR-App und berichteten über ihre Erfahrungen. Der Versuch gliederte sich in zwei Teile: einen qualitativen Test und einen quantitativen. Der quantitative Teil konzentrierte sich auf die Bedienbarkeit und das tatsächliche Nutzererlebnis, der qualitative Teil untersuchte das Verhalten und die Mimik der Versuchspersonen, während sie die App nutzten.
Die Nutzer*innen empfanden das Zusammenarbeiten per Whiteboard in einer AR-Umgebung als interaktiver und begrüßten die Freiheit, sich dabei in ihrem Raum bewegen zu können, ganz gleich, wo sie sich aufhielten – im Wohnzimmer, im Büro, in der Küche oder sogar im Freien. Es ist bekannt, dass ein Ortswechsel und Bewegung der Kreativität und Produktivität förderlich sind. Durch den flexiblen Einsatz von AR wird dies möglich.
Diese verbesserte Interaktion resultiert daraus, dass die räumlichen Lösungen der XR-Technologie es gestatten, völlig in die virtuelle Umgebung einzutauchen und auf natürlichere Weise miteinander zu agieren. Im Vergleich zu einer Videoschaltung oder traditionelleren Methoden von Online-Schulungen oder -Meetings, bei denen die Teilnehmer*innen üblicherweise in der physischen Umgebung zugegen sein müssen, sind dem AR-Äquivalent nur durch das Vorstellungsvermögen des Teilnehmenden Grenzen gesetzt.
Der Versuch zeigte, dass das AR-Board den Anwender*innen den Eindruck einer echten, greifbaren Tafel vermittelte. Darüber hinaus fühlten sich die Nutzer*innen kreativer und produktiver, da sie Ideen mittels Bildern, Videos oder Texten austauschen konnten und nicht nur durch Haftnotizen auf einem physischen Whiteboard.
Herausforderungen für XR-Technologie
XR-Apps können für räumliche Anwendungszwecke bei Zoom-Ermüdung Abhilfe schaffen und begünstigen auch eine gesündere und interaktivere Arbeitsweise; dennoch muss man sich auch der Herausforderungen bewusst sein.
Bei der Gestaltung solcher Interaktionen muss mit Bedacht vorgegangen werden – aus ganz verschiedenen Gründen: Zu viel Bewegung kann den Nutzenden solcher Geräte, die in eine erweiterte Realität versetzen, körperlich anstrengen. Dadurch nehmen womöglich Kreativität und Konzentration eher ab.
Auch gilt es, den tatsächlichen Raum zu berücksichtigen, damit die Nutzer*innen während ihres „VR-Tauchgangs“ nicht die reale Umgebung vergessen und stolpern oder stürzen. Hilfreich dabei: Durch erweiterte Telefone mit LiDAR-Sensoren lassen sich Gegenstände in der Umgebung erkennen. Die Sensoren warnen vor Hindernissen und bieten so eine sichere Führung.
Nicht zuletzt können bei telefongestützten XR-Anwendungen Arme und Hände erlahmen, da ein Telefon über längere Zeit unergonomisch gehalten wird. Durch den Fokus auf Head-Mounted Displays (HMDs) statt auf rein telefongestützte Anwendungen lässt sich diese Problematik umgehen. Allerdings sind diese auf dem Kopf getragenen Ausgabegeräte noch weit von der Massenmarktreife entfernt. Mit Oculus Quest steht uns ein guter Ansatz zur Verfügung; allerdings ist dies nur der erste Vertreter der neuen Generation, älteren Versionen mangelt es noch an Präzision.
Die XR-Technologie entwickelt sich rasant und das noch unerschlossene Potenzial ist riesig. Gleichwohl müssen noch etliche Standards und Praktiken definiert werden, damit ein echtes Eintauchen in die erweiterte Realität möglich wird.
Erste Schritte für Unternehmen auf dem Weg in die erweiterte Realität
Hybrides Arbeiten und Remote-Arbeit bilden einen Strukturwandel ab und werden sich voraussichtlich auch nach 2020 behaupten (Forrester, Predictions 2021: Remote Work, Automation, And HR Tech Will Flourish). Und die Technologie wird maßgeblich dazu beitragen, diese Arbeitsweise über unsere bisherigen Erfahrungen mit Videokonferenzen hinaus zu ermöglichen. AR-Technologien werden auf diesem Weg in die Zukunft von großem Wert sein. Für Unternehmen ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um mit XR als potenzieller Lösung für veränderte Kundenerlebnisse und -erwartungen zu experimentieren.
Als Erstes müssen dafür Unternehmen ihre Teams für das Thema sensibilisieren, die Geräte erleben und im Unternehmen Studioumgebungen schaffen, in denen die Menschen die Möglichkeit haben, durch Inkubation oder Hackathons zu lernen. Auf diese Weise lässt sich Innovation fördern, sodass die Mitarbeiter*innen Ideen entwickeln und MVPs (minimal funktionsfähige Produkte) für Lösungen erstellen, die sich am Kunden orientieren. Denn schließlich geht es bei XR um das Kundenerlebnis. Als Nächstes sollten Unternehmen in den Aufbau von Kapazitäten investieren sowie in die Kompetenzverbesserung ihrer Sales- und Pre-Sales-Teams. Denn eines steht heute schon fest: In der sich wandelnden Digitallandschaft wird XR-Technologie eine immer größere Rolle spielen.