Ob im Bereich Künstliche Intelligenz, Autonomes Fahren, Verbraucherschutz oder Internet of Things – das Thema Digitale Souveränität kratzt an uns. Wo stehen Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft heute? Welchen Beitrag können auch Kunst, Religion und Ethik zur Debatte leisten – und was sind mögliche Konsequenzen einer souveränen Gesellschaft? Ein Blick über den Tellerrand.
Das Bekanntwerden der nationalstaatlichen Spionageaktivitäten durch Whistleblower Edward Snowden im Jahr 2013 löste eine umfangreiche Debatte über Souveränität aus – insbesondere in dieser Zeit prägte sich der Begriff um die Digitale Souveränität. „Digitale Souveränität zielt generell darauf ab, Unabhängigkeit von einzelnen Wirtschaftsräumen, Staaten und Unternehmen bei Bezug und Nutzung digitaler Technologien, Dienste und Plattformen herzustellen“, definiert etwa der Digitalverband Bitkom. Die grundlegende Forderung im Positionspapier: Deutschland solle bis 2025 der Flächenstaat mit den im weltweiten Maßstab leistungsfähigsten digitalen Infrastrukturen in den Bereichen Breitband, Verkehr, Energie, Gesundheit, Bildung und Verwaltung werden. Der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen versteht unter Digitaler Souveränität „die Handlungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit der Verbraucher, in der Digitalen Welt in verschiedenen Rollen zu agieren, nämlich als Marktteilnehmer, als Konsumentenbürger einer Gesellschaft sowie als ‚Prosumer‘ in Netzwerken“. Die Leitlinien Wahlfreiheit, Selbstbestimmung, Selbstkontrolle und Sicherheit sollen zusammen mit verbraucherfreundlichen Technologien, digitaler Kompetenz und Regulierung Bürger dazu in die Lage versetzen, aktiv an einer digitalen Gesellschaft teilzuhaben.
„Das digitale Netz braucht eine Netzkultur, eine Netzethik, eine Netzpolitik wie auch rechtliche Regelungen – nicht um das Netz auszubremsen, sondern um es human zu gestalten.“ – Dr. Ralph Charbonnier, Oberkirchenrat
Der aktuelle Stand zeigt, dass wir von einer souveränen Gesellschaft noch weit entfernt sind. Digitale Agenda nennt sich die digitale Offensive der Bundesregierung. Sie enthält zum Beispiel ein Verbandsklagerecht zur Stärkung des Datenschutzes. Aber die Frage ist doch: Können wir durch den Einsatz sicherer Kommunikationswerkzeuge auch selbst für unsere Sicherheit sorgen? Und welcher Rahmen muss hierfür geschaffen werden, etwa in Fragen von Recht, IT-Sicherheit, Industrie und Verwaltung? Denn Digitale Souveränität ist mehr als Technologie und Infrastruktur. Sie berührt alle Lebensbereiche. Auf Stimmenfang.
Kompetenzen alleine genügen nicht
„Digitale Souveränität sollte nicht nur als die Hoheit einzelner Bürgerinnen und Bürger über die eigenen Daten interpretiert werden, sondern auch als die Handlungsfähigkeit der Institutionen einer Volkswirtschaft im digitalen Raum. Nimmt man diese Perspektive ein, ergeben sich über die Fragestellungen von Regulierung, Daten- und Verbraucherschutz hinaus weitere Aufgabenfelder für Politik, Unternehmen und zivilgesellschaftliche Akteure“, konstatiert Jan Wiesenberger, hauptamtlicher Vorstand des FZI Forschungszentrum Informatik in Karlsruhe. Im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) gaben das FZI, die Bitkom Research GmbH und die Accenture GmbH Mitte 2017 eine Studie zu den Kompetenzen für eine Digitale Souveränität heraus. Demnach befinde sich die Digitale Souveränität in Deutschland auf einem „akzeptablen Niveau“. Man müsse auf „offene Schnittstellen, transparente Datenverwendung und den unvoreingenommenen Austausch zwischen den beteiligten Akteuren“ setzen, um ein stabiles und vertrauenswürdiges Ökosystem als Basis für neue Innovationen zu schaffen: „Ein Ziel muss es sein, dass in einem globalisierten Wirtschaftsraum, z. B. auf die Technologien, Erkenntnisse und Fortschritte Dritter zurückgegriffen werden kann, ohne in unbeherrschbare Abhängigkeitsverhältnisse zu geraten. Entsprechende Handlungsempfehlungen haben wir in der Studie für das BMWi ausgearbeitet“, so Wiesenberger.
„Souveränität bedeutet, handlungsfähig zu sein, selbst über das eigene Tun zu entscheiden und insbesondere selbstbestimmt und selbstbewusst unter den Alternativen leistungsfähiger und vertrauenswürdiger Angebote und Partner zu wählen“, erklärt Gennadi Schermann, Leiter des DIZ | Digitales Innovationszentrum. „Souveränität bedarf aber auch digitaler Plattformen. Diese sind definiert als Produkte, Dienstleistungen oder Technologien, die als Basis für eine Vielzahl von Firmen dienen, um komplementäre Produkte, Dienste und Technologien anzubieten. Wer eine Plattform beherrscht, beherrscht letzten Endes auch die digitalen Wertschöpfungsketten. Die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft des Landes hängt daher entscheidend davon ab, dass die Unternehmen gemeinsam Plattformen und digitale Ecosystems mitgestalten und darüber ihre Digitale Souveränität erlangen. Die Vertrauenswürdigkeit der Plattformen wiederum hängt entscheidend davon ab, dass vor allem IT-Sicherheit in allen Facetten gewährleistet bleibt.“
„Nur, wenn Digitalisierung und Souveränität mit aller Kraft verfolgt werden, kann die hervorragende Wettbewerbsposition der Wirtschaft Baden-Württembergs gehalten bzw. ausgebaut werden.“ – Gennadi Schermann, DIZ | Digitales Innovationszentrum
Dirk Fox, Geschäftsführer von Secorvo Security Consulting, Initiator der Karlsruher IT-Sicherheitsinitiative und Vorstand des CyberForum, geht noch einen Schritt weiter. Er sieht vor allem die Transparenz und Wahlfreiheit als wichtige Bausteine zu einer souveränen Gesellschaft: „Digitale Souveränität wird gelegentlich auf die Befähigung zum Umgang mit den neuen Medien und Kommunikationstechniken reduziert. Dabei geht es tatsächlich vor allem um die Beherrschung der eigenen Daten: Wer verarbeitet wie welche Informationen über den Benutzer zu welchen Zwecken? An wen werden sie weitergegeben – und wann werden sie gelöscht? Bei diesen Fragen sind wir heute sehr weit von wirklicher Souveränität entfernt – und entfernen uns täglich weiter. Was wir benötigen, sind vor allem uneingeschränkte Transparenz und die Freiheit der Wahl: Nur wer weiß, welche Daten von wem zu welchen Zwecken verarbeitet werden, und wer zu jeder Cloud-Anwendung auch eine alternative dezentrale, lokale Lösung angeboten bekommt, besitzt die Voraussetzungen für eine freie Entscheidung. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Lösungsanbieter“, erklärt Fox. „Wir benötigen zu jeder zentralen Lösung mit allen ihren Komfortfunktionen auch eine dezentrale, die Dritten keine personenbezogenen Daten überlassen muss. Und die Gewissheit, dass zentral verarbeitete Daten nach einem definierten Zeitraum unwiderruflich gelöscht werden. Nur unter diesen Voraussetzungen ist Digitale Souveränität möglich.“
Kunst und Religion – der Schlüssel zur Souveränität?
„Angesichts global dominierender Firmen wie Facebook, Twitter, Microsoft, Google und Alibaba, Chinas Online-Gigant, wäre es vermessen, noch an eine europäische Digitale Souveränität zu glauben“, so Peter Weibel, Vorstand des ZKM | Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe. „Die Politik denkt bei Digitalität allerdings nur an die Wirtschaft. Europas einzige Chance ist aber der Beitrag von Kunst und Kultur zum Thema Digitale Souveränität. Die Verbindung von Wissenschaft, Technik und Kunst war schon einmal Europas global erfolgreiche Kernkompetenz, nämlich die Renaissance. Diese Allianz könnte auch wieder die europäische Erfolgsformel sein.”
„Die Souveränität über die eigenen Daten gehört zu dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Wer diese Souveränität verletzt, übt Macht über Menschen aus, schränkt deren Freiheit ein – unter Umständen ohne dass diese sich dagegen wehren können. Deswegen gilt es, darüber aufzuklären, was man selbst zum eigenen Schutz der persönlichen Daten tun und wie man die Rechte der anderen achten kann. Zugleich sind rechtliche Maßnahmen einzufordern, wo Aufklärung und Bildung nicht ausreichen“, so Oberkirchenrat Dr. Ralph Charbonnier auf Anfrage. Doch wie steht es um feste Ziele und abgesteckte Positionierungen? „Ein interdisziplinäres Beratungsgremium arbeitet an Kriterien für eine ethisch verantwortliche Gestaltung der Digitalisierung. Die Kirche beteiligt sich am öffentlichen Diskurs, lernt von Fachleuten und gibt ethische Impulse. Mit Bildungsveranstaltungen, zum Beispiel in der Jugendarbeit, versucht sie, die Sensibilität der Nutzerinnen und Nutzer digitaler Technologien für Chancen und Risiken zu erhöhen. Zurzeit arbeitet eine Projektgruppe an einer Digitalstrategie für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Diese wird auf der Synode im November 2018 zur Diskussion gestellt.“
Prof. Dr. Susanne Hahn ist Professorin für Theoretische Philosophie an der Universität Düsseldorf und Preisträgerin des Deutschen Preises für Philosophie und Sozialethik der Max Redler Stiftung, einer der renommiertesten und höchstdotierten Auszeichnungen im Bereich der Geisteswissenschaften. Sie stellt die Frage nach möglichen Konsequenzen und der Einschränkung Digitaler Souveränität: „Wenn Individuen souverän über ihre Daten verfügen, heißt das auch, dass sie diese Daten anderen zur Verfügung stellen dürfen. Sie können z. B. Daten über ihr Fahrverhalten oder ihr Bewegungs- und Ernährungsverhalten direkt an eine Versicherung übermitteln, die ihnen im Gegenzug bei risikoarmem Verhalten einen Bonus gewährt. Agieren viele Menschen in dieser Weise, geraten Individuen, die ihre Daten nicht preisgeben möchten – aus welchen Gründen auch immer – unter Druck. Zwar können sie immer noch entscheiden, ob sie dies tun oder nicht, und sind insofern souverän. Die ‚Nutzung‘ der Souveränität im Sinne der Nicht-Preisgabe von Daten wird möglicherweise aber immer nachteiliger. Der Bonus für die Datenlieferer würde zum Malus für die Datenverweigerer. Das Risikomodell der Versicherer über die Bildung von Risikoklassen würde verändert. Handeln zum eigenen Vorteil als digitaler Souverän führt zu Verschlechterungen für andere Individuen. Rechtfertigt dieser Umstand die Einschränkung digitaler Souveränität und damit den Eingriff in die Verfügung über persönliche Daten durch rechtliche Regulierung? Macht es einen Unterschied, ob es dabei um Krankenversicherungen oder um Autoversicherungen geht?“
Loseblattsammlung der Digitalisierung
Digitale Souveränität – so schwammig wie der Begriff ist, so lose scheint auch das Stückwerk zu sein, aus dem er sich bislang inhaltlich zusammensetzt. Sicher ist: Wenn Nutzer das Gefühl haben, von Technik gesteuert zu sein, geben sie Autonomie ab. Die Beherrschung von Schlüsselkompetenzen und -technologien ist also nach wie vor ein zentrales Kriterium für die Digitale Souveränität. Das erklärte die Fokusgruppe Digitale Souveränität der Plattform Innovative Digitalisierung der Wirtschaft bereits im Jahr 2015. Auch, wenn der Digitalisierung in der Politik nun drei Jahre später (endlich) ein höherer Stellenwert eingeräumt wird, liegen noch große Hürden vor dem Ziel einer digital souveränen Gesellschaft. „Was im Ergebnis der Koalitionsverhandlungen noch fehlt, ist vor allem eine in sich konsistente Datenpolitik“, so Bitkom-Präsident Achim Berg in einer Pressemitteilung vom 7. Februar. „Zunächst soll sich nach Vorstellungen der Koalitionspartner ein Ethikrat mit den entsprechenden Fragen befassen. Diese Fragen sind aber bereits vor fünf Jahren von der Internet-Enquete des Bundestags gestellt und beantwortet worden.“
IT-Sicherheit und Datenschutz müssen die Basis für eine souveräne Gesellschaft bilden – die Grundlagen hierfür müssen geschaffen werden. Ein erster Schritt ist sicher die neue Datenschutz-Grundverordnung, die im Mai in Kraft tritt. Karlsruhe, die Stadt des Rechts, ist Testfeld für Autonomes Fahren, ist de:hub für Künstliche Intelligenz. Ein vielleicht glücklicher Umstand, dies alles so nah beieinander zu wissen – und eine Chance. Die Debatte um Souveränität wird auch weiter geführt werden. Dabei sollten auch Seitenblicke geworfen werden auf andere Disziplinen, die den engen Fokus der Politik durch neue Denk- und Lösungsansätze erweitern.