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In Baden-Württemberg laufen bereits seit einigen Jahren Pilotprojekte im Bereich der digitalen Verwaltung – unter anderem das eJustice-Programm der Justiz Baden-Württemberg, das von Jens Altemeier geleitet wird. Wir haben mit ihm über die Herausforderungen und Chancen des digitalen Wandels gesprochen.

Lieber Herr Altemeier, die öffentliche Verwaltung zählt gemeinhin nicht zu den Vorreitern, wenn es um das Thema Digitalisierung geht. Ganz losgelöst von eJustice: Warum ist es in Deutschland für Ämter so schwierig, mit dem digitalen Wandel Schritt zu halten und bestehende Strukturen zu modernisieren?

Wenn der Staat den Bürgerinnen und Bürgern digitale Angebote unterbreitet, dürfen diese erwarten, dass die Verwaltungsleistungen rechtssicher und vertraulich abgewickelt werden. Hierzu sind einig gesetzliche Rahmenbedingungen zu beachten, wie beispielsweise der elektronische Ersatz der Schriftform durch Signaturen oder bestimmte Identifizierungs- und Authentifizierungsverfahren. Das ist grundsätzlich auch gut so, fördert allerdings nicht unbedingt die Agilität des digitalen Angebots.

Ein weiterer Faktor ist sicher, dass die Leistungen, die der Staat erbringt, sehr speziell sind. Insofern hat es die Wirtschaft leichter, Skalen- und Synergieeffekte zu realisieren. Während beispielsweise Onlineeinkäufe oder Transaktionen im Onlinebanking von Jedermann beinahe täglich getätigt werden, ist das Online-Baugenehmigungsverfahren oder die Online-KFZ-Zulassung für Bürgerinnen und Bürger eher eine singuläre Angelegenheit. Bei häufig vorkommenden Verwaltungsleistungen steht auch die öffentliche Hand meines Erachtens gut da. Nehmen Sie zum Beispiel das sehr gute Auskunfts- und Informationsangebot der meisten Kommunen und Landesbehörden oder die öffentliche Müllabfuhr. Ich werde an meinem Wohnort jedenfalls elektronisch daran erinnert, die Mülltonne oder den gelben Sack rauszustellen. 

„Die Einführung der elektronischen Akte soll die Justiz revolutionieren,“ schrieb die Süddeutsche Zeitung im Juli 2016 über die Einführung des papierlosen Arbeitens in der Justiz in Baden-Württemberg. Was waren damals die Ziele von eJustice?

Die Justiz muss und will sich dem unaufhaltsamen Trend zur elektronischen Kommunikation anpassen. Dementsprechend ist das wichtigste Ziel, digital eingehende Dokumente auch digital weiterzuverarbeiten und somit den ständigen Medienbruch im Verfahrensablauf zu vermeiden. Die digitale Bearbeitung wird auch zu einer Vereinfachung und Beschleunigung der Arbeitsabläufe beitragen. Denken Sie nur daran, dass eine elektronische Akte gleichzeitig von mehreren Personen bearbeitet werden kann. Während ein Sachverständiger sein Gutachten bearbeitet oder jemand Akteneinsicht nimmt, kann das Gericht weiterarbeiten. Zudem kann der immer umfangreicher werdende Prozessstoff nun elektronisch durchsucht und aufbereitet werden, was von der nachwachsenden Juristengeneration selbstverständlich erwartet wird. Auch will niemand mehr mit einem Pilotenkoffer voller Akten nach Hause fahren oder zu Terminen erscheinen. Auf die eAkte kann von überall her elektronisch zugegriffen werden.

Inzwischen sind fast zwei Jahre vergangen. Was ist aus der „Revolution“ geworden?

Sie schreitet voran. Inzwischen haben wir alle Arbeitsplätze mit der für die eAkte notwendigen Hardware ausgestattet und an acht Gerichten wird mit der elektronischen Akte gearbeitet. Nach Wiederinbetriebnahme des elektronischen Anwaltspostfachs ab September planen wir die Einführung an weiteren Gerichten. Zuerst soll die Arbeits- und Finanzgerichtsbarkeit ausgestattet werden. Daran sollen sich Zivilabteilungen der Amts- und Landgerichte anschließen.

Wie wird die papierlose Justiz von Richtern, Staatsanwälten und Anwälten angenommen? Gibt es auch Widerstände?

Jens Altemeier
Jens Altemeier leitet seit 2012 das IT-Referat des Ministeriums der Justiz und für Europa. Dort ist er verantwortlich für die IT-Ausstattung der Gerichte, Staatsanwaltschaften sowie der Justizvollzugsanstalten in Baden-Württemberg. In dieser Funktion leitet Altemeier auch das eJustice-Programm der Justiz Baden-Württemberg.

Die Rückmeldungen sind überwiegend positiv und konstruktiv. So konnten wir seit Beginn der Pilotierung bereits mehr als 100 Anwenderwünsche umsetzen. Auch von den Beschäftigtenvertretungen wird das Vorhaben konstruktiv begleitet.  Das größte Augenmerk wird dabei nach meinem Eindruck auf einen stabilen und performanten technischen Betrieb der Anwendungen gelegt. Insgesamt gibt es nur sehr wenige Stimmen, welche die Einführung der elektronischen Akte grundsätzlich in Frage stellen.

Wir konnten an allen bisherigen Pilotprojekten beobachten, dass es in den ersten Monaten nach der Einführung der elektronischen Akte Reibungsverluste in der täglichen Arbeit und vereinzelt auch Frustrationen gab. Nach Durchschreiten dieses „Tals der Tränen“ wuchs die Akzeptanz und die Zufriedenheit jedoch stetig. Die meisten Nutzer wollen die elektronische Akte nach der Eingewöhnungszeit nicht mehr hergeben.

Und wie sieht es mit den Bürgern aus? Oft hört man von Behördenseite, dass bereits bestehende eGovernment-Angebote kaum genutzt werden.

Die Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs durch Bürger ist in der Tat die Ausnahme. Die in den Verfahrensordnungen vorgesehenen elektronischen Übermittlungswege sind bei diesen nicht besonders weit verbreitet. Das gilt auch für die DE-Mail. Ich könnte mir aber vorstellen, dass mit der Einführung der von der Bundesregierung vorgesehenen Bürgerkonten eine Kehrtwende erreicht werden kann. Die Landesjustizverwaltungen würden es sicher begrüßen, wenn die Bürgerkonten auch für die Kommunikation mit der Justiz genutzt werden könnten.

Wo gibt es aus Ihrer Sicht derzeit die meisten Probleme? Oder anders gefragt: Was muss passieren, damit alle Behörden ihr „Angebot“ digitalisieren?

Ich glaube nicht, dass es nur den einen gordischen Knoten gibt, der durchschlagen werden müsste. Es gibt in der öffentlichen Verwaltung viele gute Beispiele dafür, dass die Digitalisierung vorangetrieben werden kann. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor scheint mir der Mut und die Entschlusskraft der jeweiligen Entscheidungsträger zu sein, gute Projektideen zügig und lösungsorientiert umzusetzen. Perfektionismus und zu lange Planungszyklen sind Feinde von Digitalisierungsprojekten. 

„Mails, Tweets, Whats-Apps – das gehört zu unserem Alltag. Aber gehören sie auch in die Justiz? Die Antwort darauf ist eindeutig: Nein!“ – heißt es auf der eJustice-Website. Dass Twitter und WhatsApp für eine sichere Kommunikation ungeeignet sind, steht außer Frage, aber was spricht gegen signierte E-Mails, über die durchaus eine sichere Kommunikation möglich wäre?

Zunächst mal sieht das Gesetz bzw. die Rechtsverordnung der Bundesregierung über den elektronischen Rechtsverkehr die normale E-Mail nicht als zulässigen Übermittlungsweg vor.  Aus technischer Sicht spricht bereits der mit einer E-Mail maximal mögliche Datenumsatz von 10 bis 20 Megabyte je E-Mail dagegen. Das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) leistet derzeit flächendeckend 60 Megabyte; perspektivisch sollen hierüber auch ganze Akten mit mehreren 100 Megabyte übertragen werden können. Daneben bietet EGVP eine verlässliche, für alle Teilnehmer verfügbare Ende-zu-Ende Verschlüsselung; ein vergleichbares Vertraulichkeitsniveau ist mit den gängigen Transportverschlüsselungen der E-Mail nicht zu erreichen. Nicht zu vergessen sind die Vorteile der Zusatzdienste wie des elektronischen Empfangsbekenntnisses sowie der automatischen Zugangsbestätigung.

Wird die Digitalisierung die öffentlichen Verwaltung nachhaltig verändern, oder bleibt es Ihrer Meinung nach bei ausgewählten Leuchtturm- und Pilotprojekten?

Nach meiner Wahrnehmung hat bereits vor einigen Jahren eine Veränderung durch Einführung digitaler Arbeitsabläufe eingesetzt. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich als Auszubildender einer Bank Ende der neunziger Jahre regelmäßig zum Amtsgericht gegangen bin, um Grundbuch- und Registerblätter einzusehen. Das kann sich heute niemand mehr vorstellen. Andererseits ist Digitalisierung auch kein Selbstzweck, so dass die Entscheider in der Verwaltung die Nachhaltigkeit im Blick behalten müssen.

Wir danken Ihnen für das Interview.