MINT-Bildung ist für unsere Kinder existenziell. Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik hilft ihnen, die Welt um sie herum zu verstehen und aktiv mitzugestalten. Der MINT-Arbeitsmarkt boomt. 33 Prozent aller Arbeitsplätze sind MINT-Arbeitsplätze. Die Zahl der Studierenden in den MINT-Studiengänge ist jedoch rückläufig. In vielen Schulen spielen MINT-Fächer nicht die notwendige Rolle.
Damit Potenziale nicht verlorengehen, braucht es Initiativen fernab von schulischen Zwängen und Kultus-Bürokratie. In Karlsruhe wird das seit vielen Jahren beispielhaft gelebt. Die Initiativen setzen hier nicht nur in den Schulen an, sondern auch an Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen sowie im außerschulischen Bereich, zum Beispiel in Jugendhäusern. Die Angebote sind beliebt. AGs und Kurse laufen förmlich über. Auch das MINT-Festival ist in Badens IT-Metropole angesiedelt. Es ist von der technika, der größten regionalen MINT-Initiative Deutschlands initiiert . Karlsruhe entwickelt sich damit in Sachen MINT zur Modellregion.
Von Ariane Lindemann
Was MINT nicht ist? MINT-Bildung ist nicht nur was für Technik-Nerds. MINT fördert das Denken, das Kombinieren von Ideen und das Lösen von kniffligen Problemen. Skills, die für das Leben und den Beruf wichtig sind. MINT-Jobs werden in Zukunft gefragt sein. Wer Ahnung davon hat, wird beste Karrierechancen haben. Was allerdings fehlt, sind flächendeckende Angebote und Lehrkräfte mit entsprechender Ausbildung. „Die schulische Förderung im MINT-Bereich und im Bereich der Talent-Konservierung in Deutschland ist unzureichend“, stellt Dr. Peter Gilbert, Leiter der Schülerakademie Karlsruhe, fest. „Interessierte, begabte und motivierte Kinder werden nicht genug gefördert. In den Schulen schlummern viele Talente, die oftmals verlorengehen.“ Um diesem Missstand zu begegnen, begann die Schülerakademie schon vor mehr als zehn Jahren, ein außerschulisches Fördersystem aufzubauen – losgelöst von Bürokratie und Bildungsplan-Zwängen. Heute bietet die Schülerakademie ein beachtliches Angebot an Projekten für kleine und fortgeschrittene Forscher*innen in Kooperation mit anderen Karlsruher Lern- und Forschungseinrichtungen, wie dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT), der Hector Kinder-Akademie und vielen Schulen.
„In Sachen MINT-Initiativen ist Karlsruhe absolute Modellregion – das gibt es sonst nirgends.“
(Dr. Peter Gilbert, Leiter der Schülerakademie Karlsruhe)
„Echte kleine Wissenschaft betreiben“
Bereits ab der ersten Klasse bis zum Schulabschluss findet das durchgängige breite thematische Angebotssystem großen Anklang. Darunter Science Camps am KIT, in denen Kinder in verschiedenen Fakultäten spannende Projekte durchführen können. Oder Kinderforscher Jahreskurse, bei denen die Kids zum Beispiel mit dem Chemiebaukasten ein Gefühl für Gefahrensituationen bekommen und einfache chemische Vorgänge erlernen oder einen Computer auseinander- und wieder zusammenbauen. Für den Schul-Robotik-Cup haben Fünftklässler*innen kürzlich ein selbsteinparkendes Auto für verschieden große Parklücken konzipiert. Der smarte Pflanzensensor eines Schülers der Carl-Engler-Schule hat sogar den Jugend forscht-Landeswettbewerb gewonnen. „Sich ausprobieren, Experimente machen, echte kleine Wissenschaft betreiben, entdecken und eigene Stärken finden, hinter die Dinge schauen und sie verstehen – das ist das Leitmotiv der Schülerakademie“, betont Akademieleiter Gilbert. „Kinder und Jugendliche leben bei uns definitiv auf. Denn sie haben hier etwas, was sie in der Schule nicht haben“. Peter Gilbert, der bis 2019 Schulleiter am Bismarck-Gymnasium war, sieht Karlsruhe in einer Vorreiterrolle. „Hier gibt es mittlerweile viele einzelne Initiativen, die mehr und mehr zusammenarbeiten. In Sachen MINT-Initiativen ist Karlsruhe absolute Modellregion – das gibt es sonst nirgends.“
Tüfteln mit fischertechnik
Am Bismarck-Gymnasium liegt mit der Einrichtung der ersten fischertechnik AG auch die Keimzelle der technika, der größten regionalen MINT-Initiative Deutschlands. Die Karlsruher Technik-Initiative ist inzwischen ein erfolgreiches Großprojekt, das vom CyberForum e.V. getragen wird und mehr als 130 Schulen mit fischertechnik-Baukästen für die fischertechnik-AGs ausgestattet hat. Rund 2.000 Schüler*innen nehmen wöchentlich daran teil. „In vielen Fällen ist die fischertechnik AG sogar ein wichtiges Kriterium bei der Schulwahl“, wie Stephan Kallauch, MINT-Koordinator bei der technika, aus Gesprächen mit Eltern und Schüler*innen weiß.
„Jede*r dritte Schulabgänger*in wird später mal in einem MINT-Beruf arbeiten. 95 Prozent davon sind Informatik- und Technik-Berufe. „Unsere Schulen bereiten jedoch darauf nicht vor, wovon ein Großteil unserer Kinder später leben wird. Das ist absurd“. Dirk Fox initiierte 2013 die erste Fischertechnik AG, weil er bereits während der Schulzeit seiner drei Söhne jegliche Technik-Vertiefung vermisste. Inzwischen richtet die technika, die 2019 gegründet wurde, das MINT-Festival aus, das mit vielen Live-Demos aus den fischertechnik AGs vor Kreativität und Technikbegeisterung nur so strotzt.
„Unsere Schulen bereiten darauf nicht vor, wovon ein Großteil unserer Kinder später leben wird. Das ist absurd.“
(technika-Gründer Dirk Fox)
MINT-Angebote in Jugendhäusern
Einmal im Jahr werden am fischertechnik-Tag in der Gartenschule sämtliche Arbeiten aus den fischertechnik AGs „zusammengeführt“. Ziel des Tüftler-Events ist es, die Objekte aus den einzelnen AGs an diesem Tag zu einem riesigen Gesamt-Projekt werden zu lassen. In diesem Jahr wurde der Weltrekord für die Konstruktion einer Ballweitergabemaschine von insgesamt 49,25 Metern gefeiert.
Schul-Robotik-Cup, Girls‘ Digital Camps, MINT-Feriencamps – die technika fördert mit vielen Angeboten das intrinsische Interesse von Kindern und Jugendlichen. Eine Weiterentwicklung der fischertechnik AGs ist sind die technikaLabs, ein außerschulisches Projekt an vielen Standorten der offenen Kinder- und Jugendarbeit des Stadtjugendausschuss (stja), der zusätzlich als Anbieter für Ferienprogramme die Organisation und Betreuung übernimmt. Weiterer Partner ist das Institut für Produktentwicklung (IPEK) am KIT. Es unterstützt die Angebote mit 3D-Druck, Lasercutting und Sensoren, um gezielt in die Talentförderung zu gehen. Außerdem werden gezielt Workshops von Studierenden in den Einrichtungen beim stja angeboten.
Programmieren hat Zukunft
Mit der AG Tüfteln und Forschen ermöglicht auch das Lessing-Gymnasium Schüler*innen, anspruchsvolle MINT-Projekte zu realisieren. „Es ist unser Bestreben, Potentiale zu entdecken und diese freizusetzen“, sagt Abteilungsleiter Dr. Daniel Roth. Ergänzt wird Tüfteln und Forschen um die AGs NAO, Robotik und Robocup, wo Schüler*innen Roboter programmieren oder erste Programmier-Schritte mit LEGO Mindstorm Robotern machen. „Wir wollen mit diesem Angebot den Schülerinnen und Schülern klarmachen, dass ihnen durch Programmierung die Welt zu Füßen liegt, dass der Realisierung von Dingen und Träumen kaum noch Grenzen gesetzt sind. Wir wollen, dass sie ‚ihr Ding‘ machen“, so Dr. Roth. „Dafür opfern unsere Lehrkräfte viele Deputatstunden.“
Ein besonderes Projekt in diesem Zusammenhang war der Versuch, mit einer Nutzlast auf dem Mond zu landen und dort erstmals in guter Auflösung den freien Fall ohne Reibung zu dokumentieren. „Auch wenn das Projekt schlussendlich nicht erfolgreich war, hat es bei uns viele positive Spuren hinterlassen. Wir sind als Team zusammengewachsen, wir konnten Kontakte zu potenziellen Geldgebern knüpfen und Erfahrungen beim Management von großen Projekten sammeln“, resümiert Roth.
„Wir wollen mit diesem Angebot den Schülerinnen und Schülern klarmachen, dass ihnen durch Programmierung die Welt zu Füßen liegt.“
(Dr. Daniel Roth, Schulleiter Lessing-Gymnasium Karlsruhe)
Schüler*innen dazu bringen, wie Ingenieur*innen zu denken
Auch Prof. Dr. Sven Matthiesen vom Institut für Produktentwicklung am KIT (IPEK) sieht im Fachkräftemangel im Technikbereich eine große Herausforderung: „Der Wohlstand unseres Landes hängt davon ab wie viele Güter wir in den Export bringen. Hier brauchen wir megagute Produkte, die in klugen Köpfen entstehen. Das ist die wichtigste Ressource, von der wir viel zu wenig haben.“ Wobei mit Wohlstand nicht Luxus gemeint ist. Wohlstand kann man auch in Initiativen umsetzen, zum Beispiel im Bereich Klimawandel, Umwelt, Nachhaltigkeit, Gesundheitssysteme, gute Bildung für alle und soziale Sicherung. „Nur mit Wohlstand kann man diese Initiativen auch umsetzen. Und dafür braucht es unter anderem kluge Tech-Köpfe“. Wir am IPEK denken wie Ingenieur*innen“, sagt Matthiesen. „Wir wollen mit unserem Engagement auch Schüler*innen dazu bringen, wie Ingenieur*innen zu denken. Deshalb haben wir mit dem Förderprojekt und den technikaLabs Möglichkeiten geschaffen, ein reales Produkt zu entwickeln – von der Idee bis zur Fertigungsinfrastruktur, die wir bereitstellen.“
Lerncampus LAZ – Schnittstelle zwischen realer und digitaler Welt
Weil die Zahl der MINT-Studierenden stark rückläufig ist, muss man bereits während der Schulzeit Begeisterung für Technik-Studiengänge schaffen. Mit dem Lern- und Anwendungszentrum Mechatronik (LAZ) am Durlacher Tor, das im ersten Schritt für Studierende und später auch für Schüler*innen gedacht ist, wird im Fach NwT der Klassen 5-12 die Produktionstechnik des IPEK nutzbar gemacht. Hier können sie denken, herstellen, testen, lernen, entwickeln und aus Fehlern lernen. „Denn das lernt man nicht im Unterricht oder Hörsaal, sondern indem man es macht“, kommentiert Matthiesen diesen Ansatz der interdisziplinären Produktentwicklung. Geplant ist, den Lerncampus LAZ ins Metaverse bringen – mit dem Ziel, die internationale Zusammenarbeit mit Karlsruher Studierenden und Schüler*innen aus aller Welt physisch und virtuell zu ermöglichen.
„Schüler*innen sollen lernen, was Produktentwicklung konkret bedeutet. Aber eben nicht mit der Laubsäge, sondern mit professioneller Fertigungsinfrastruktur.“
(Dr. Sven Matthiesen, Institut für Produktentwicklung (IPEK) am KIT)
Foto: Birk Heilmeyer und Frenzel Gesellschaft von Architekten GmbH
Lehrer*innen für MINT befähigen
„Ein wichtiger Hebel, um Schülerinnen und Schüler zu begeistern, sind die Lehrerinnen und Lehrer“, sagt Matthiesen über das Lehr-Lern-Labor NwT des IPEK. Als eine von vier baden-württembergischen Universitäten bildet das KIT seit 2010 Lehrkräfte aus, die das Schulfach NwT vertreten. Hier werden Studierende befähigt, den möglichen Fachkräften der Zukunft einen fundierten Zugang zum weiten Feld der Technik sowie berufliche Orientierung zu geben. Gemeinsam mit sechs Karlsruher Partnerschulen (Otto-Hahn-, Bismarck-, Fichte-, Kant- und Albertus-Magnus-Gymnasium) laufen bereits Kooperationen. „Der Trick ist, überhaupt erst mal zu verstehen, was zu vermitteln ist. Denn Schüler*innen sollen lernen, was Produktentwicklung konkret bedeutet. Aber eben nicht mit der Laubsäge, sondern mit professioneller Fertigungsinfrastruktur. Das gehen wir mit diesem Train-a-Trainer-Konzept an.“
“Der Besuch ermöglicht umfangreiche Versuche und gewährt Einblicke in das Hochschulleben.“
Schüler*innen experimentieren an der Hochschule Karlsruhe
An der Hochschule Karlsruhe (HKA) begeistert das Projekt InspirING® Schüler*innen ab Klasse 8 für Naturwissenschaften und Technik und fördert ihre Beschäftigung mit MINT-Phänomenen sowie Studien- und Berufsmöglichkeiten. Das Besondere an InspirING ist unter anderem, dass es sowohl in Schulen als auch in der Hochschule stattfindet. Mithilfe mobiler Ausrüstung gehen Studierende in den regulären Unterricht. An anderen Tagen erleben Schüler*innen hochmoderne, nicht-transportable Versuchseinrichtungen an der Hochschule. “Der Besuch ermöglicht umfangreiche Versuche und gewährt Einblicke in das Hochschulleben sowie die praxisorientiere Ausbildung in unseren Laboren, die wir als Hochschule für angewandte Wissenschaften bieten können“, sagt Corinna Eußner vom Institut Maschinenbau und Mechatronik (MMT) an der HKA. Sie promoviert gerade zum Thema „Warum sich immer weniger Schüler*innen für MINT-Studiengänge interessieren“. Das Spektrum reicht von der Erzeugung eines feuerspuckenden Vulkans mit Hilfe von Mangandioxid und Wasserstoffperoxid über ‚das Klima in der Antarktis erleben & mit flüssiger Luft Eis herstellen‘. Ziel dieses Wahlfaches ist es, eine praktische Unterrichtseinheit mit einem technischen Phänomen aus dem Alltag der Schüler*innen zu verbinden, um so Sichtbarkeit und eine sensiblere Wahrnehmung von Technik zu kreieren. InspirING kommt an. „Wir könnten gefühlt jede Woche einen Durchgang an Schulen anbieten“, freut sich Corinna Eußner. „Das Projekt ist eine sehr gute Vorbereitung auf die spätere komplexe Ingenieursarbeit.“
Auch in Berufsschulen schlummern Talente
Lust machen auf technische Experimente, auf kulturelle Themen, Verstehen von naturwissenschaftlichen Zusammenhängen – das ist die große Klammer, die alle Initiativen umspannt. Und davon gibt es weitaus mehr. Von der Mitmachwerkstatt FabLab im Schlachthof, dem Haus der jungen Forscher und der Hector Akademie bis hin zu Forschungsarbeit für schlaue Köpfe, eine Initiative für Schüler*innen der beruflichen Gymnasien und zahlreiche andere schulische MINT-Angebote – die Liste ist lang. Wie wichtig MINT-Bildung ist, das ist in Karlsruhe verstanden worden.
Bildnachweis: CyberForum / Björn Pados