Er wird als „das Rückgrat“ der deutschen Wirtschaft bezeichnet. Ist im Englischen sogar eine der wenigen Vokabeln, die direkt aus der deutschen Sprache übernommen wurden. In Bonn hat er ein eigens nach ihm benanntes Institut. Er ist Motor der deutschen Wirtschaft und ein Exportschlager – nicht nur in den Sprachwissenschaften. Der Mittelstand!
Ein Blick in die Statistik zeigt, dass dieser Mittelstand auch volkswirtschaftlich seinem Ruf gerecht wird: 58,8 Prozent aller Beschäftigten – das sind über 16 Millionen Menschen – und 82 Prozent aller Auszubildenden in Deutschland bereiten sich in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) auf ihr Berufsleben vor. KMU tragen jährlich mehr als die Hälfte zur Nettowertschöpfung bei.
Doch wer verbirgt sich wirklich hinter diesen Zahlen? Und wer legt eigentlich fest, wer dieser Mittelstand ist? Wo liegt der Unterschied zwischen Kleinstunternehmen (KKU) und KMU? Handelt es sich hierbei in erster Linie um Familienunternehmen? Überhaupt sind KMU gleichbedeutend mit dem Mittelstand? Und ergibt eine Differenzierung zwischen großen sowie kleinen und mittleren Unternehmen überhaupt Sinn?
EU, Bund und Land mit KMU-Förderprogrammen
Vorweg: Ja, eine Unterscheidung ist sinnvoll. Neben der wirtschaftlichen Leistung des Mittelstandes geht es nämlich auch um sehr viel Geld, genauer gesagt: um Steuergeld. Öffentliche Förderprogramme sind oftmals spezifisch auf kleine und mittlere Unternehmen zugeschnitten. Die Europäische Union hat mit EASME (Executive Agency for Small and Medium-sized Enterprises) eine eigens auf KMU ausgerichtete Agentur geschaffen. Flankiert wird diese von COSME (Competitiveness of Enterprises and Small and Medium-sized Enterprises), dem zentralen europäischen KMU-Förderinstrument. Allein im Jahr 2018 wurde EASME mit einem Budget von 479.74 Millionen Euro ausgestattet. Auch die Bundesregierung unterstützt den Mittelstand: so wurden als Hilfestellung bei der Digitalisierung – eine große Herausforderung für mittelständische Unternehmen – aktuell 23 Mittelstand 4.0-Kompetenzzentren geschaffen. Das Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg fordert darüber hinaus KMU, die über weniger als 100 Mitarbeiter verfügen, mit Innovationsgutscheinen oder Digitalisierungsprämien.
Ist die Grenze für KMU also bei 100 Mitarbeitern zu ziehen? Nein! Die Grenze liegt darüber. Sie liegt aktuell bei 249 Beschäftigten. Festgelegt durch die Europäische Union mit der Empfehlung 2003/361/EG aus dem Jahr 2003. Dass die Entscheidung der EU nicht willkürlich durch die Behörden in Brüssel, Luxemburg und Straßburg getroffen wurde, zeigt die öffentliche“ Konsultation zur Kategorisierung von KMU“ aus diesem Jahr. Bis März 2018 konnte man sich übrigens an dieser öffentlichen Diskussion und an der „Überprüfung zur Definition von KMU“ beteiligen.
Definitionen und ihre Auswirkungen
Wenn es nach dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie geht, verändert sich durch die Befragung einiges. Er sieht in der neuen EU-Mittelstands-Definition gar eine einmalige Chance für Europa. Dass diese Einschätzung drastisch, aber nicht falsch ist, zeigen unter anderem die Ausnahmekriterien für KMU bei staatlichen Beihilfen oder der administrativen Freistellung dieser Unternehmen bei der Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH). Immerhin haben Produzenten chemischer Erzeugnisse Dokumentationspflichten, die über den Lieferanten bis hin zum Händler reicht – ausgenommen davon: KMU.
Solche Ausnahmen verdeutlichen, wieso sich auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BVDI) oder der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) aktiv in die Konsultation eingebracht haben. Die Verbände plädieren für eine Anhebung der maximalen Mitarbeiterzahl und des größtmöglichen Jahresumsatzes. Denn, so wird argumentiert, allein die Inflationsrate ist von 2013 bis 2016 um 26,75 Prozentpunkte angestiegen. Folgerichtig solle auch die Grenze für den Jahresumsatz erhöht werden, so DIHK und BVDI. Die Definition allein auf die Mitarbeiterzahlen zu begrenzen sei nicht mehr zeitgemäß.
Dabei setzen sich verschiedene Verbände auch für die Einführung einer neuen Kategorie ein: Sogenannte „small MidCaps“ mit 249 bis 499 Beschäftigten könnten eine sinnvolle Ergänzung darstellen. Diese Unternehmen sind verstärkt im europäischen Binnenmarkt aktiv und sollten getrennt von Großunternehmen betrachtet werden. Doch nicht nur die „small MidCaps“ haben mit der aktuellen Situation ihre Probleme.
Besonders Familienunternehmen mit mehr als 249 Mitarbeitern sehen sich aktuell benachteiligt. „Die KMU-Definition ist willkürlich, veraltet und sie vernachlässigt die für Deutschland so bedeutenden großen Familienunternehmen“, so Stefan Heidbreder, Geschäftsführer der Stiftung Familienunternehmen. Das in Bonn ansässige Institut für Mittelstandsforschung (IfM) sieht die Grenzen für KMU aktuell bei 500 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von maximal 50 Millionen Euro. Außerdem erkennt das Institut die Schnittstellen von Familienunternehmen und Eigentümer geführten Unternehmen. Allerdings können diese Unternehmen über die Mitarbeiter- und Umsatzgrenze von KMU hinausgehen. Für das IfM zählt, wer Eigentümer der Firma ist. Demnach müssen bei diesen Unternehmen bis zu zwei natürliche Personen oder ihre Familienangehörigen mindestens 50 Prozent der Anteile halten und gleichzeitig der Geschäftsführung angehören.
Auch Kommunen sind betroffen
Welche Firmen in Zukunft den KMU-Status erhalten, bleibt abzuwarten. Klar ist, die Auswirkungen werden nicht nur die privaten Unternehmen treffen. Auch Kommunen haben an einer Anpassung direktes Interesse. So sind aktuell auch kommunale Unternehmen gegenüber rein privaten benachteiligt. Sobald eine Firma zu mindestens 25 Prozent in öffentlicher Hand ist, fällt diese, ungeachtet der anderen Kriterien, aus der Definition heraus. Das bedeutet einen erheblichen Mehraufwand, etwa bei der Durchführung von Energieaudits nach der EU-Energieeffizienz-Richtlinie, die für KMU beispielsweise nicht gilt.
Nach der aktuellen EU-Definition sind über 99 Prozent der Firmen in Deutschland KMU. Allein die pure Anzahl macht deutlich, diese Unternehmen sind nicht nur „Rückgrat“ der Wirtschaft, sondern beinahe der gesamte „Torso“. Allerdings scheint ein bloßes Anheben der Maximalkriterien nicht zielführend. Immer noch würden bestimmte Unternehmen aus der Definition herausfallen. Wie in so vielen Bereichen einer ausdifferenzierten Gesellschaft mit spezialisierten Wirtschaftssektoren, scheint eine genauere Untergliederung, in diesem Fall eine der Unternehmen, ein zielführender Weg zu sein.