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Unter dem Begriff „Industrie 4.0“ sollen Fertigungs- und IT-Industrie verschmelzen, um eine möglichst kostengünstige und flexible Produktion mit immer schnelleren Innovationszyklen zu erzielen. Noch nie war die Industrie diesem Ziel so nah wie heute.

Laut Cisco Connections Counter sind aktuell fast 13 Milliarden Menschen, Prozesse, Daten und Dinge mit dem Internet verknüpft. Experten prognostizieren bis 2030 einen Anstieg der weltweit verbreiteten Sensoren auf 100 Billionen. Das Internet der Dinge wächst und bildet die technische Grundlage für eine Vielzahl neuer technologischer Entwicklungsschritte. „Industrie 4.0“ ist das Buzzword für das Verschmelzen von Fertigungs- und IT-Industrie und rückt zunehmend in den Fokus von Politik und Wirtschaft.

„Die Wirtschaft steht an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution. Die Vernetzung von eingebetteten IKT-Systemen – so genannte ‚Cyber-Physical-Systems‘, CPS – verknüpft reale und virtuelle Welt“, schreibt die Bundesregierung und wirbt für das „Zukunftsprojekt Industrie 4.0“. Die Vision: Verteilte, aber vernetzte Intelligenz soll der Industrie bessere Monitoring- und autonome Entscheidungsprozesse ermöglichen. Unternehmen werden in der Lage sein, ganze Wertschöpfungsnetzwerke in nahezu Echtzeit steuern und optimieren zu können mit dem Ziel, individualisierte Produkte zu den Bedingungen einer hoch flexiblen Großserienproduktion zu realisieren.

Industrie 4.0 – was ist das?

Damit diese Vision auch in die Stärkung des Produktionsstandorts Deutschlands mündet, muss die Wirtschaft mitziehen. Während die IT-Industrie nach Cloud Computing und Big Data den Umgang mit Buzz-Themen gewohnt ist, tut sich die Fertigungsindustrie derzeit offenbar noch schwer, den Trend als Chance zu begreifen. Fast zwei Drittel (64,3 %) der mittelständischen Fertiger in Deutschland, Österreich und der Schweiz kennen den Begriff „Industrie 4.0“ nicht. Das ergab eine Umfrage unter rund 1.000 Unternehmen durch das Analysehaus Techconsult. In der diskreten Fertigung sind es 38 Prozent, die den Begriff kennen, in der Prozessindustrie nur 27 Prozent.

Grafik Umfrage
Umfrage über den Bekanntheitsgrad der Industrie 4.0 (Bild: Techconsult)

Peter Burghardt, Geschäftsführer und Mitgründer des Marktforschungs- und Beratungsunternehmen erkennt dennoch eine positive Tendenz: „Das ist immer noch ein extrem hoher Anteil“, sagte er der WirtschaftsWoche. „Immerhin hat sich der Prozentsatz im Vergleich zum Juni 2013 um vier Punkte verringert. Vor einem knappen Jahr wussten noch 68,5 Prozent der mittelständischen Fertiger nicht, was Industrie 4.0 ist, obwohl es das Leitthema der weltgrößten Industriemesse in Hannover war.“ In der IT-Industrie sieht das Stimmungsbild anders aus. Laut einer Umfrage des Hightech-Verbands BITKOM sehen 81 Prozent der IT-Unternehmen in der Steuerung von Entwicklung und Produktion über das Internet in den kommenden Jahren ein wichtiges Geschäftsfeld. Dabei misst fast jedes dritte IT-Unternehmen Industrie 4.0 heute bereits große Bedeutung zu. Jedes zehnte bietet aktuell spezielle Lösungen für die Industrie 4.0 an, weitere 13 Prozent entwickeln derzeit entsprechende Angebote.

Tatsächlich hoher Reifegrad

Die beiden Umfragen erwecken den Eindruck, als klaffe noch eine große Lücke zwischen der IT- und Fertigungsindustrie. Dabei spricht vieles dafür, dass der Innovations- und Industrie-4.0-Reifegrad im produzierenden Gewerbe in Wahrheit viel höher ist. Laut „IT Innovation Readiness Index 2013„, den das Marktforschungsunternehmen Pierre Audoin Consultants (PAC) im Auftrag von Freudenberg IT erstellt hat, nutzen bereits 70 Prozent der Unternehmen IT-Fernwartung, 60 Prozent IT-basierte Automatisierung und fast zwei Drittel intelligente Anlagen. Ein Anliegen der Marktforscher war auch, die Innovationsbereitschaft der Branche beim Übergang in das Industrie-4.0-Zeitalter zu ermitteln und mittels eines IT-Innovationsindexes zukünftig mess- und vergleichbar zu machen. Der Innovationsindex der Zielgruppe liegt auf einer Skala zwischen 0 und 10 bei 4,91. Der Industrie 4.0-Index beträgt laut Studie 6,28.

Ist am Ende „Industrie 4.0“ nur ein schwer zu vermittelnder Kunstbegriff, der in der Welt der IT-Entscheider und Produktionsleiter keine Rolle spielt? Marion Horstmann, Strategie-Chefin des Sektors Industry von Siemens ist sicher, dass auf dem Weg zu einer Industrie 4.0 noch viele Medien – und Datenbrüche zu überwinden sind. Der Begriff sei in der Forschungsunion, dem Beratergremium aus Wissenschaft und Wirtschaft für die Hightech-Strategie der Bundesregierung, geprägt worden. Außerhalb Deutschlands finde er kaum Verwendung. Das ändert aber nichts daran, dass Unternehmen und auch andere Industrienationen das Ziel haben, eine möglichst kostengünstige und flexible Produktion mit immer schnelleren Innovationszyklen voranzutreiben.

Henning Kagermann, Präsident der Technikakademie Acatech, ist überzeugt, dass der Zusammenschluss zwischen IT- und Fertigungsindustrie in Deutschland erfolgreich sein wird. „In dieser Hinsicht hat Deutschland eine bemerkenswerte Kultur der Kooperation“, sagt er im Interview mit der Computerwoche. „In den Verbänden und Arbeitskreisen arbeiten Konkurrenten gemeinsam an einem Ziel. Wir haben etwa bewusst auch die Gewerkschaften ins Boot geholt, um die Arbeitnehmervertreter an dieser Initiative zu beteiligen. Das hat kein anderes Land hingekriegt. Der Gedanke dahinter ist, dass es uns gemeinsam gelingen muss, Industrie 4.0 voranzutreiben.“